die Sache nicht folgenden Hintergrund gehabt hätte, der auf eine nationalisti¬
sche „Eroberungsstrategie“ hinauslief. Nach der k. u. k. Schulgesetzgebung war
nämlich jede Gemeinde verpflichtet, für Kinder einer anderen als im Ort vor¬
herrschenden Nationalität Schulen einzurichten und auf Gemeindekosten zu
unterhalten, sobald die Zahl der schulpflichtigen andersnationalen Kinder der
ethnischen Minderheit 30 Personen überschritt. Diese an sich sinnvolle Bestim¬
mung zugunsten der Minoritäten diente aber den jeweiligen nationalen Vereinen
und Kampforganisationen nur dazu, durch Schulvereine so lange eine eigene
Minderheitenschule zu finanzieren, bis dieselbe durch intensives nationales
Werben bei den Eltern oder durch politischen Druck auf dieselben mehr als 30
Schulkinder hatte und deshalb von der Gemeinde übernommen und bezahlt
werden mußte. Auf diese Weise wurde dann das Geld der tschechischen oder
deutschen Schulvereine, das jetzt frei geworden war, für die Gründung neuer
Privatzwergschulen in anderen Orten oder Stadtvierteln eingesetzt, dies natür¬
lich mit demselben Ziel, auch diese Schulen so weit zu bringen, daß sie Ge¬
meinde oder Staat übernehmen mußten.
Also eine ausgesprochene Kampfstrategie der beiden Nationalismen, die das
politische Klima vergifteten und das nationalistische Konfrontationsdenken be¬
reits auf die Kinder übertrug. Man kann getrost von einer Vergiftung des poli¬
tisch-sozialen Bewußtseins sprechen. Aufgrund dieser Kampfsituation um die
Schulkinder erklärt sich auch das Einschreiten des - in diesem Fall tschechi¬
schen - Ortsschulrats gegen Johann Lehar. Das Wiener Verwaltungsgericht,
eine national paritätisch besetzte Justizbehörde, entschied den Fall sehr ver¬
nünftig dahingehend, daß Lehar bei nächster Gelegenheit seine Nationalität
wechseln und sich in den deutschen Nationalkataster umschreiben lassen solle,
womit automatisch und aufgrund des Elternrechts der Eintritt seiner Tochter
Anna in die deutsche Volksschule erfolgen könne. Eine neuerliche Beschwerde
Johann Lehars wurde vom Gericht abgewiesen.
Es war bereits kurz vom „Mährischen Ausgleich“ des Jahres 1905 und der
damit verbundenen Einrichtung von „Nationalkatastern“ die Rede, einem Ge¬
setzeswerk, das einen Meilenstein in der Sprachenpolitik Österreich-Ungarns
für die westliche - österreichische - Reichshälfte darstellte. In Mähren hatte
sich die deutsche Landtagsmehrheit unter maßgeblicher Initiative Johann von
Chlumeckys mit der tschechischen Minderheit über eine neue Landesordnung
einschließlich einer Landtagswahlordnung sowie über den Gebrauch der beiden
Landessprachen und über die Organisation der jeweils deutschen und tschechi¬
schen Schulbehörden geeinigt. Bei Beibehaltung des Kuriensystems, nachdem
bisher ein restriktives Zensuswahlrecht gehandhabt worden ist, wurde jetzt eine
allgemeine Wählerkategorie neu geschaffen. Die Wählerschaft wurde in zwei
nationale Klassen geteilt, deren Mitglieder in getrennten Wählerlisten
(Nationalkataster) eingetragen waren. Dabei wählten Tschechen und Deutsche
in der Wählerkurie der Landgemeinden, der Städte sowie in der allgemeinen
Wählerklasse gesondert in besonderen nationalen Wahlbezirken, nur in den
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