Nach der Darstellung dieses Sonderfalls, der sehr deutlich zeigt, wie Sprachen¬
politik und Politik Zusammenhängen, will ich nun die Möglichkeiten der inne¬
ren Sprachenpolitik (Eingliederung, Abspaltung, Verbindung) einzeln darstel¬
len.
Eingliederung ist in der Sprachenpolitik sehr oft anzutreffen. Sie ergibt sich
einmal aus der Ausdehnung einer Standardsprache über ihren ursprünglichen
Geltungsbereich hinaus und kann in diesem Fall als natürliche Wachstumser¬
scheinung gesehen werden. Zum andern können aber auch Gebiete eingeglie¬
dert werden, die schon überdacht waren. Außerhalb der Slavia kann man in
diesem Zusammenhang auf die Geschichte der französischen (langue d’oi'l/
langue d’oc) und der deutschen (niederdeutsch/hochdeutsch) Standardsprache
verweisen. In der Slavia ist ersterer Fall ebenfalls gut belegt (am aus¬
geprägtesten im Falle des Russischen). Letzterer Fall liegt vor bei der Heraus¬
bildung der kroatischen Schriftsprache, wo in der ersten Hälfte des 19. Jahr¬
hunderts die stokavisch-ijekavische Variante auch die Gebiete überdachte, die
vorher die kajkavische und z.T. noch früher die ¿akavische Variante verwendet
hatten.38 Ähnliches gilt für die polnische Standardsprache, die ihren Geltungs¬
bereich auch auf pomoranisches (d.h. kasubisches und slovinzisches) Gebiet
ausdehnte, obwohl es dort zumindest Ansätze einer eigenständigen Standardi¬
sierung gegeben hatte.39 In die gleiche Richtung gehen Versuche, die cechische
Standardsprache auch für die Slowakei verbindlich zu erklären; sie wurden im
19. Jahrhundert unternommen und kehrten in abgeschwächter Form im 20.
Jahrhundert wieder.40 Des weitem gehören hierher die oben erwähnten Versu¬
che der Eingliederung Mazedoniens in den Geltungsbereich der serbischen bzw.
der bulgarischen Standardsprache. Als Extremfall der Eingliederung ist
schließlich der Vorschlag anzusehen, den Geltungsbereich einer bestehenden
slavischen Standardsprache auf die ganze Slavia auszudehnen.4! Neben der
38 Vgl. dazu Franolic 1984 und Brozovic 1976.
39 Die sprachliche Frage wurde hier sehr stark von der Politik überschattet: während von
polnischer Seite die Zugehörigkeit des KaSubischen zum Polnischen verfochten wurde,
neigte man deutscherseits eher dazu, dem KaSubischen Selbständigkeit zuzugestehen.
Dies gab Anlaß zum Vorwurf, es würde versucht, auf sprachlichem Gebiet eine Politik
des „divide et impera” zu betreiben. Die tatsächlichen sprachlichen Verhältnisse sind wohl
am besten dargestellt bei Baudouin de Courtenay 1904.
40 Aussagekräftig ist hier der Titel eines Sammelbandes von 1846: „Stimmen zur Not¬
wendigkeit einer einheitlichen Schriftsprache für Böhmen, Mährer und Slowaken”
(Hlasowe 1846). Diese einheitliche Standardsprache konnte natürlich nur das Cechische
sein.
41 Dafür kam (und kommt) eigentlich nur die russische Standardsprache in Frage, und einen
entsprechenden Vorschlag hat es auch gegeben (vgl. Budiloviö 1892 und die Rezension
Jagic 1893). Dem Vorschlag war natürlich kein Erfolg beschieden. Immerhin kann man
den obligatorischen Russischunterricht im ehemaligen Ostblock als Versuch ansehen, das
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