chigen Bevölkerung.29 In einem weiteren Schritt konnte sich daraus russische
Einsprachigkeit ergeben. Bemerkenswert ist, daß diese tatsächliche Bevorzu¬
gung des Russischen mit der offiziellen Betonung der Gleichberechtigung aller
Sprachen der UdSSR einherging. Obwohl dem Russischen in der UdSSR
rechtlich nie eine Sonderstellung eingeräumt wurde, war es, um ein auf das
Französische gemünztes Aperçu abzuwandeln, „offiziös die offizielle Sprache
der UdSSR”.30 Insgesamt ist diese Sprachenpolitik zugunsten des Russischen in
der UdSSR sehr erfolgreich gewesen, nicht zuletzt aufgrund des zentralistischen
Verwaltungsaufbaus und der großen Bevölkerungsverschiebungen. Neben der
Vergrößerung des sprachlichen Kontinuums bildeten sich insbesondere in städ¬
tischen Gebieten außerhalb des slavischen sprachlichen Kontinuums russisch¬
sprachige Inseln, die damit den Geltungsbereich des Russischen wenn nicht flä¬
chendeckend, so doch zumindest punktuell ausdehnten.31
Insgesamt kann man für die äußere Sprachenpolitik ein West-Ost-Gefälle aus¬
machen. Gegen Westen war das Grenzgebiet der Slavia gegen das Vordringen
nichtslavischer Standardsprachen zu verteidigen. Im Osten dagegen verschob
sich das Grenzgebiet zugunsten des slavischen sprachlichen Kontinuums.
Bei der inneren Sprachenpolitik ergibt sich die Schwierigkeit, die sprachlichen
Grenzen und damit auch die Grenzgebiete zu bestimmen. Während bei der äu¬
ßeren Sprachenpolitik die sprachlichen Grenzen des Kontinuums deutlich aus¬
geprägt sind, fehlen solche klaren sprachlichen Grenzen innerhalb des slavi¬
schen Kontinuums. Grundlegend für die innere Sprachenpolitik ist deshalb die
Frage der Überdachung, d.h. des Geltungsbereichs einer Standardsprache in¬
nerhalb des Kontinuums. Theoretisch gibt es in diesem Zusammenhang vier
Möglichkeiten:
- Die Überdachung besteht unbestritten und gerät anderen Überdachungen
nicht in die Quere.
29 Der erste Schritt dazu war die Einführung des Russischunterrichts (meist ab dem ersten
Schuljahr) in allen Schulen der UdSSR 1938 (Lewis 1972, 198). Um die Ausbreitung
des Russischen zu fördern, wurden alle neuverschrifteten Sprachen (ausgenommen waren
damit nur das Armenische, das Grusinische, das Jiddische und die baltischen Sprachen),
für die in den meisten Fälle erst gerade eine Lateinschrift entwickelt worden war, ab den
dreißiger Jahren auf die kyrillische Schrift umgestellt (vgl. für die Turksprachen Baldauf
1993 und allgemein Musaev 1965).
30 Héraud 1980, 199: „Le français... est officieusement langue officielle de la France.” Die
fehlende gesetzliche Absicherung des Status des Französischen hat allerdings Frankreich,
wie bekannt, nicht daran gehindert, Gesetze zum Schutz der französischen Sprache zu
erlassen.
31 Solche russischsprachigen Inseln bildeten sich auch innerhalb des Kontinuums (in
Weißrußland und in der Ukraine); hier handelt es sich aber um innere Sprachenpolitik.
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