Lorraine parle français“.107 Lothringen ist also eigentlich auch nach dem Kri¬
terium der Sprache ganz französisch. Als folgenreiche Hilfskonstruktion führt
er eine auf die Gallizität Frankreichs gegründete historische Substrattheorie ein:
„Si le peuple lorrain n’était pas radicalement gaulois, l’idiome germanique eût
débordé par les cimes, envahis les pentes, les bassins, les couloirs de l’Est et les
plaines voisines“.108 Wenn also das Deutsche nicht noch weiter über die Voge¬
sen hinaus aus dem Elsaß vorgedrungen ist, so liegt das an der Kraft des galli¬
schen Volkstumssubstrats Lothringens, das „une province toute française“ ist.
Aber auch die Elsässer sind nicht „une population germanique dans le sens
rigoureux du terme“.109 Man kann - wie etwa die Juden - die deutsche Sprache
sprechen, ohne „à la race allemande“ zu gehören. Caesar bezeugt doch, daß
Gallien bis an den Rhein reichte, daß die Elsässer also Gallier waren; erst spät
kam es zu einer Invasion von Germanen: also sind die Elsässer eine „race
mixte“. Der belgische Historiker hat sich hiermit grundsätzlich auf ein noch zu
erörterndes Argumentationsmuster eingelassen, das mit anderen Vorzeichen
auch in der deutschen Publizistik, etwa bei Treitschke erscheint. Und trotz der
Absurdität der gallisch-keltischen Substrattheorie wird diese in der französi¬
schen Polemik im Umkreis des Ersten Weltkriegs unfröhliche Urständ feiern.
Schon Sybel freilich hat die Substrattheorie, wenn man sich überhaupt auf
einen solchen Diskurs einlassen wolle, mit Hinweis auf die nur äußerst spärlich
im Elsaß vertretenen „Ortsnamen romanischer oder gallischer Ableitung“ zu¬
rückgewiesen.110
Blieb man bei den aus dem Nationalitätsprinzip abzuleitenden Forderungen, wie
sie etwa Böckh 1869 formuliert hatte, dann war man auf deutscher Seite auch
dann noch in Argumentationsnot für die Notwendigkeit der Annexion, wenn
man die Deutschsprachigkeit der Elsässer und Ostlothringer nachgewiesen hatte.
Gewährte der Staat seiner sprachlichen Minderheit die sprachlichen Grund¬
rechte, wie Gebrauch der Muttersprache in Schule, Kirche und Institutionen,
dann war er nicht zu tadeln, die Zustände also auch nicht änderungsbedürftig.
Folgerichtig bemühen sich manche deutsche Autoren um den Nachweis der
Unterdrückung des Deutschen durch die französische Verwaltung.111 Man kann
dafür stellvertretend die zusammenfassende Argumentation Heinrich von
107 Michiels (Anm. 80), S. 57.
108 Michiels (Anm. 80), S. 58.
109 Michiels (Anm. 80), S. 77ff.
110 v. Sybel (Anm. 81), S. 529 (mit Hinweis auf den elsässischen Humanisten Wimpfeling,
der dieses schon bemerkt habe).
111 Z. B. Dove (Anm. 23), S. 435; Menzel (Anm. 63), S. 88f.; Löher (Anm. 10), S. 60ff.;
Volger, Franz: Elsaß, Lothringen und unsere Friedensbedingungen, Anklam (Verlag
Dietze) 1870 [nach Körner, Anm. 43, S. 64f.].
235