Einer der ersten, wenn nicht der erste, der Anstöße zur wissenschaftlichen Le¬
gitimierung und Definition der in der Öffentlichkeit an Kontur gewinnenden
Kriegsziele gab, war der Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive, Max
Duncker, der spätestens seit dem 30. Juli mit seinem Schüler, dem Tübinger
Historiker Julius Weizsäcker, Mitglied der Württemberger ,Deutschen Partei4,
seit 1867 Ordinarius in Tübingen und ab August 1870 Bearbeiter der Reichs¬
tagsakten, in eine Korrespondenz über Elsaß und Lothringen trat, in deren
Verlauf Duncker am 7. August von ihm eine prononciert süddeutsche Denk¬
schrift erbat, die auch von anderen Tübinger Gelehrten, darunter dem Theolo¬
gen Karl Weizsäcker (1822-99), Bruder von Julius, und Karl Klüpfel (1810—
94) sowie den Juristen R. Römer (1823-79) und Gustav Rümelin (1815-88),
unterzeichnet und von Duncker an Bismarck weitergeleitet werden sollte. Julius
Weizsäcker muß sich umgehend ans Werk gemacht haben: schon vor dem 17.
August hatte Duncker die vom Nationalitätsprinzip geprägte und von süddeut¬
schem Sicherheitsdenken bestimmte Denkschrift, die erst 1929 ediert wurde,48
weitergeleitet. Am 4. September war die Argumentation - wohl unter Einfluß
von Bismarcks Pressebüro - in einen Artikel der Norddeutschen Allgemeinen
Zeitung4 eingegangen.49
Am 12. August begann der öffentliche, von gegenseitigem Respekt getragene
Briefwechsel des evangelischen Theologen und Publizisten David Friedrich
Strauß (1804—74), Gymnasialprofessor in Ludwigsburg, mit dem französischen
Religionswissenschaftler Ernest Renan (1823-1892), zugleich Orientalist und
Schriftsteller, Deutschland-Kenner auch, der am 13. September antwortet, wo¬
rauf - nun die Elsaß-Frage deutlicher berührend - Strauß am 29. nochmals
replizierte.48 50 Beide waren einander durch den Versuch einer Revision der
,Leben Jesu4-Forschung in historischem Sinne geistig verwandt, beide von der
klerikal dogmatisch bestimmten Öffentlichkeit ihrer Länder ins Abseits gestellt
1870/71, Bd. 1, Leipzig 1871, passim. Nicht alle ermittelten Publikationen und Bro¬
schüren konnten eingesehen werden; einiges scheint verloren, wie etwa Bohlmann, Otto:
Die Friedensbedingungen und ihre Verwirklichung, Berlin (Verlag Schindler) 1870
[darüber Körner, S. 31 f.]. Heinrich von Treitschke kannte diese Schrift und war auch, wie
aus einem Brief vom 3.9.1870 hervorgeht, mündlich durch den Bonner Kollegen Arnold
Dietrich Schäfer über den Inhalt schon vorher unterrichtet. Vgl. Andreas, Willy: Briefe
Heinrich von Treitschkes an Historiker und Politiker vom Oberrhein, Berlin 1934, S.
21f.
48 Anrich, Gustav: „Eine Denkschrift Julius Weizsäckers über Elsaß-Lothringen vom
August 1870“, in: Elsaß-Lothringisches Jahrbuch 8 (1929), S. 285-296.
49 Anrich (Anm. 48), S. 294.
50 Strauß, David Friedrich: Zwei Briefe an Ernest Renan nebst dessen Antwort auf den
ersten, Leipzig 1870; neu abgedruckt in: Krieg und Friede 1870. Zwei Briefe von David
Friedrich Strauß an Ernest Renan und dessen Antwort, Leipzig [1915] (Insel-Buch Nr.
164).
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