Volkszahl und Sprachgebiet in den europäischen Staaten. Eine statistische Un¬
tersuchung von Richard Böckh, dem Sohn des berühmten Klassischen Philolo¬
gen August Böckh, des Begründers der Historischen Altertumswissenschaft; der
Sohn war Beamter des Königlich Statistischen Bureaus zu Berlin, Spezialist für
Bevölkerungsstatistik, 1864 Autor der großen Sprachkarte vom preußischen
Staate,14 1866 einer Abhandlung über Die statistische Bedeutung der Volks¬
sprache als Kennzeichen der Nationalität,15 Das Nationalitätsprinzip bedeutet
„die Anerkennung der Besonderheit jeder Nation“, das Recht auf „Ausübung
ihres Geistes“, bedeutet „Freiheit vom Druck fremden Geistes“, bedeutet
„Anerkennung der Einheit jeder Nation“.16 Aus dem Geiste Herders wird die
Nationalität, die Pflege ihrer Besonderheit quasi zu einem Menschenrecht, die
Nation Prinzip, primäres Agens der Geschichte. Böckh fordert die Deutschen
auf, „die nationale Einheit zu ihrem festen Dogma zu machen“.17 Er stellt fest,
daß die Deutschen nicht nur nicht in einem Staat vereint sind, sondern vielfach
„mit Bruchstücken anderer Nationen zu Staatsganzen verbunden, von deren
Leitern teilweise dem Deutschen das Recht auf den Gebrauch seiner ange¬
stammten Sprache versagt wird, in beträchtlichen Theilen sogar unter die Herr¬
schaft eines fremden gestellt, der geradezu die deutsche Nationalität zu vertil¬
gen bestrebt ist ,..“.18 Doch ist von Böckh vorwiegend eine geistig-kulturelle
Einheit gemeint, er geht nie so weit, ein Leben von Deutschen in anderen
Staaten für unmöglich zu halten, wenn nur die Freiheit ihrer Betätigung ge¬
währleistet ist. Das stellt er als Forderung ausdrücklich auch etwa für die Polen
und andere Nationalitäten innerhalb des preußischen Staatsgebildes fest.
Grundlagen der Nationalität und damit auch Instrument ihrer Feststellung ist
zunächst einmal die Gemeinschaft der Abstammung, das, was andere nach
Friedrich Ludwig Jahn (1810) ,Volkstum' nennen werden.19 20 Doch sind hier
naturgemäß zahlreiche Mischungen denkbar, ja gang und gäbe. So bleibt als
einzig wahres Kennzeichen, als Signum der Nationalität die Sprache. Nation ist
vor allem andern eine „Gemeinschaft des Logos“.20 Daraus folgt, daß „Volks¬
Böckh, Richard: Sprachkarte vom preußischen Staate, Berlin (Verlag Dietrich Reimer)
1864.
^ Böckh, Richard: „Die statistische Bedeutung der Volkssprache als Kennzeichen der
Nationalität“, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft (Berlin,
Verlag F. Dümmler), 4, 1866, S. 259^102.
16 Böckh (Anm. 3), S. lff.
17 Böckh (Anm. 3), S. 2.
18 Böckh (Anm. 3), S. 2.f.
19 Jahn, Friedrich Ludwig: Das deutsche Volksthum, Lübeck 1810. Die französiche
Übersetzung von 1825 verwendet den Begriff nationalité.
20 Böckh (Anm. 3), S, 7. Wie allgemein die aus dem Geist der romantischen Philologie
geborene Gleichung von .Volkstum4 und Sprache den Gebildeten und Gelehrten im
deutschen Sprachraum bereits galt, zeigt der österreichische Historiker Ficker, Julius: Das
deutsche Kaiserreich in seinen universalen und nationalen Beziehungen, Innsbruck 1861,
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