3) Die Kontaktlinguistik sieht Sprache gewöhnlich als bedeutendes Sekundär¬
symbol für zugrundeliegende Konfliktursachen sozioökonomischer, politischer,
religiöser oder historischer Art. Hierdurch erscheint der Sprachkonflikt gewis¬
sermaßen als das „kleinere Übel“, da offensichtlich sich in vielen Fällen
Sprachkonfükte leichter korrigieren und neutralisieren lassen als primär sozio-
poütische und andere, außersprachlich bestimmte Konflikte.
4) Die Kontaktlinguistik macht nicht nur deutlich, daß Konflikte nicht aus¬
schließlich negativ beurteilt werden sollten, sondern weist zugleich nach, daß
aus Konflikten neue Strukturen entstehen können, die - vor allem für Minder¬
heitssprecher - günstiger sein können als die vorhergehenden.
Ist ein Überleben der kleineren (autochthonen) Sprachgruppen in einem verein¬
ten Europa überhaupt möglich? Vieles scheint bei diesen 60 bis 80 Millionen
(von insgesamt über 370 Millionen EU-Bewohnem) Minderheitsangehörigen
dagegen zu sprechen:
1) Die Sprecherzahl zahlreicher Minderheitssprachen ist außerordentlich gering,
so daß ein selbständiges Sprach- und Kulturleben in einem vereinten Europa
nicht mehr gewährleistet ist (Ostfriesisch in Deutschland: ca. 900; Deutsch in
Gressoney, Italien: ca. 500; Ladinisch in Südtirol, Italien: ca. 20 000 Sprecher).
2) Grenzübergreifende Wirtschafts-, kulturelle Vereinheitlichungs- und sprach¬
liche Standardisierungsbestrebungen durch Medien und Datenverarbeitung för¬
dern die Assimilation kleiner und kleinster Minderheiten.
3) Durch den täglichen Sprachkontakt mit den großen Mehrheitssprachen euro¬
päischer Nationen hat sich in allen Minderheitsgebieten ein Trend zur Zwei-
und Mehrsprachigkeit durchgesetzt, der die Bedeutung der Minderheitssprachen
als allgemeingültige Kommunikationsmittel erheblich zurückgedrängt hat.
4) Die Akzeleration im Terminologiebereich und die sprachliche Anpassung an
eine computerorientierte Internationalisierung auch kleinerer Sprachgemein¬
schaften hat die Bedeutung von Minderheitssprachen in vielen Bereichen des öf¬
fentlichen Lebens noch weiter reduziert.
Aus diesem Grunde wollen wir uns in den folgenden Ausführungen den
Sprachkontakten und Sprachkonflikten dieser autochthonen Sprachgruppen zu¬
wenden und uns eingangs die Frage nach der (Überlebens-)Dynamik und Vitali¬
tät kleinerer europäischer Sprachen stellen. Eine pragmatische Kategorisierung
der Konflikte von sowohl Sprachgrenzminderheiten wie isolierten Klein- und
Kleinstsprachen soll die Aktualität dieser Fragestellung in den Mittelpunkt
rücken. Schließlich soll am Beispiel mehrsprachiger europäischer Länder an¬
satzweise überlegt werden, inwieweit derartige Konflikte neutralisiert werden
können.
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