Flußverlauf und sogar die Flußmitte sich regelmäßig ändern und neu verabredet
werden müssen. Gerade diese Bedingungen entziehen sich meist einer
definitorischen Festlegung, und so verlieren Flußgrenzen noch zusätzlich viel von
ihrem so "augenfälligen", aber doch nur vermeintlich linearen Charakter.
Als lineare Grenzen im engeren Sinne sollen zunächst künstlich abgesteckte und
zwischen den Markierungen linear gedachte Formen verstanden werden. Metho¬
disch lassen sie sich demnach an solchen Markierungen, möglichst steinernen
Zeichen, erkennen. Bis zum 15. Jahrhundert ist dies freilich wohl nur aufgrund
schriftlicher Quellen möglich, weil konkrete Zeichen im Sinne von Realien ver¬
witterungsbedingt nicht früher greifbar sind15. Zusätzlich sollen ausdrückliche
Schriftzeugnisse für "gedachte gerade" oder lineare Grenzftihrung beachtet
werden.
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Ein zeitlicher Rückgriff auf die römische Kaiserzeit ist schwierig, vor allem auch
riskant, weil das römische Weltreich "die juristische Fixierung seiner
Reichsgrenzen bewußt" ablehnte, dies auch nicht dulden zu können mein¬
te16.Schon Pompeius hatte in seinem Tatenbericht betont, daß er "die Grenzen
des Reiches bis an die Enden der Welt vorgeschoben" habe (Diodor 40,4), und
nach ihm begründete Augustus "mit der universalen Ausdehnung des
beherrschten Raumes die Rolle des omnipotenten Weltherrschers, die für alle
seine Nachfolger verbindlich wurde"17. So feierte Horaz den Kaiser als Vollender
eines Weltreiches, "das sich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang
erstreckte"18, entschied mit Vergils Worten Juppiter über Roms Zukunft: "Weder
in Raum noch Zeit setzte ich diesen (Römern) eine Grenze. Ein Reich ohne Ende
habe ich verliehen" (Aeneis, l,278f.: his ego nec metas rerum nec tempora pono,
imperium sine fine de di)19.
Die römische Alltagspraxis desavouierte diesen hohen Anspruch nicht, sie mußte
aber gleichwohl die Peripherie des Reiches schützen. So entwickelte sich in der
Zeit nach Trajan "ein System der linearen Grenzverteidigung", das bis in die
230er Jahre tauglich blieb, das aber gegenüber germanischen Reitervölkem zer¬
brach, wie beispielsweise 259/260 der germanische Limes20. Vermutlich wurde
15 Als sehr früh können drei gut erhaltene Grenzsteine gelten, die bald nach 1336 im Gebiet von Sisteron
und PoÖt (zw. Hautes und Basses-Alpes) gesetzt wurden und mit Wappenreliefs versehen sind: Joseph
Vollaire, "Bornes du XIVe siècle limitant la communauté de Poët", in: Bulletin de la Société d'études
des Hautes-Alpes, Jg. 1938 (Gap 1938), S.169-171.
16 Hier und im folgenden Werner Dahlheim, Geschichte der Römischen Kaiserzeit (Oldenbourg
Grundriß der Geschichte, Bd. 3), München 21989, S.93.
17 Ebd. S.82.
18 Ebd.
19 Ebd. S.83.
20 Ebd. S.77f.
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