Erfassung des Raumes sowie rechtliche Absicherung gegenüber Nachbarn und
Dritten seien die Hauptmotive der Grenzpolitik des Deutschen Ordens gewesen11.
Doch Neitmanns These von der einzigartigen - und wohl auch über keine
historischen Vorbilder verfugenden - Rolle der Deutschordenspolitik dürfte etwas
überzogen sein, zumal er meint, bei der Entwicklung der Grenzen in Schlesien,
Böhmen und Österreich sei "es mehr oder weniger dem Zufall überlassen
(geblieben), wo die Grenze gegenüber dem Nachbarn schließlich verläuft"11 12.
Letztlich scheint sich hinter der zitierten Ansicht die Überzeugung zu verbergen,
daß die Ausbildung linearer Grenzen vorzugsweise ein Produkt zweiseitiger
Vereinbarungen sei, daß sie nicht auf einseitigen Handlungen (Akten) beruhe.
Mit Helmolt, Karp und Neitmann korrespondiert die These von Guichonnet und
Raffestin, daß ein Zusammenhang bestehe zwischen der Entwicklung des moder¬
nen Staates im 13./14. Jahrhundert und linearer Grenzziehung, die ein stabilisie¬
rendes und Streit vermeidendes Element gewesen sei13. - Dem Reiz, unser ohne¬
hin schwieriges Thema auf das nicht viel leichtere Terrain der modernen
Staatsentwicklung daher zu verlagern, soll indes widerstanden werden.
Ich werde mich im folgenden nicht auf sogenannte natürliche Grenzformen
konzentrieren, zum Beispiel auf Flüsse, Seen und andere Gewässer, auch nicht
auf Gebirgskämme oder Wasserscheiden. Mit ihnen sind nämlich vielfältige
Probleme verknüpft, die sich bereits in Frageform andeuten lassen: Wie weit
reicht beispielsweise das Flußufer? Wie ist es definierbar und bei welchem
Wasserstand? Da auch die Herrschaft über den Fluß, selbst seine Nutzbarkeit in
höchstem Maße (fast) immer strittig waren, sollen diese äußerst komplizierten
Grenzformen hier außer acht gelassen werden. Ein weiterer Grund kommt hinzu,
der sich mit dem angedeuteten Vorbehalt gegenüber dem zweifellos üblichen
Begriff der "natürlichen Grenze" berührt. Im strengen Sinne gibt es solche gar
nicht, denn "auch natürliche Grenzen müssen zu solchen erklärt bzw. bewidmet
werden, was in früherer Zeit jeweils feierlich in Gegenwart des Volkes und der
beiderseitigen Nachbarn geschah. Zudem sind" - wie kürzlich Th. Bühler-
Reimann zu Recht ebenfalls herausstellte - "solche Grenzen selten durchgängig,
sie müssen ergänzt werden, was zu künstlichen Grenzen führt"14. Vor allem ist
zu beachten, daß Grenzen immer zu solchen erklärt, bestimmt, deklariert werden
müssen, daß natürliche Vorgaben für sich grundsätzlich keine Grenzen bieten.
Daher sollte man durchweg statt von "künstlichen Grenzen" von na¬
turbegünstigten Grenzen reden! Im Fall der angesprochenen Fluß- oder
Wassergrenzen kommt sogar das Sonderproblem hinzu, daß Flußufer,
11 Klaus Neitmann, Die Staatsverträge des Deutschen Ordens in Preußen 1230-1449. Studien zur
Diplomatie eines spätmittelalterlichen deutschen Territorialstaats (Neue Forschungen zur
Brandenburgisch-Preußischen Geschichte 6, 1986), S.560.
12 So pointiert S.567.
13 P. Guichonnet und C. Raflestin, Géographie des Frontières (1974), S.12f.
14 Theodor Bühler-Reimaim, "Die Grenzziehung als Musterbeispiel von faktischem Handeln mit direkten
Rechtswirkungen", in: Festschrift für Louis Carlen zum 60. Geburtstag, hg. von L. C. Morsak und M.
Escher (Zürich 1989), S.589.
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