"Ich bin Saarländer, und die Lothringer sind unsere Nachbarn. Lothringer sind, wenn ich
mir die Geschichte betrachte, Nachbarn an sich, und wenn ich ganz tief in der Geschichte
nachforsche, dann fällt mir auf, daß wir [...] allesamt Lothringer, genau gesagt,
Lotharingier, und als solche Nachbarn untereinander, ja am Ende unsere eigenen Nachbarn
sind.
Lotharingier sind Nachbarn. Eine lange Geschichte hindurch saßen sie zwischen den
Königs- und den Bischofsstühlen; und als die letzten Kaiser ihre Thronsessel bestiegen, da
hatten die alten Lotharingier immer noch nicht ihren Platz in dieser Geschichte
eingenommen. Nein, für die Lotharingier hat es keinen festen Platz in der Geschichte
gegeben, und deshalb sind sie immer Nachbarn geblieben. Doch welche Lotharmgier sind
nun im Laufe der Geschichte Deutsche und welche sind Franzosen geworden? Welche
Lotharingier dagegen sind Lotharingier geblieben?"5
Dieser Text spielt geradezu mit den Möglichkeiten der Dissimilation und der As¬
similation. Der ironische Tonfall mag sich auch als Remedium gegen den früher
einmal beklagten saarländischen Inferioritätskomplex herausgebildet haben. Er
gipfelt darin, daß das Saarland von Harig zum Mittelpunkt der Welt deklariert
wird - eine Übung, die allenthalben in den Provinzen probiert wird, ob in Friedrich
Dürrenmatts Forderung nach dem "Weltmodell" der Schweiz oder in Walter Höl-
lerers "Weltei"-Theorie für seine oberpfalzische Heimat.
Entscheidend ist aber, daß Harig hier einen mythischen oder doch mythologisie¬
renden Topos zitiert, mit ihm spielt und ihn damit aufhebt. Der Traum von Lotha¬
ringien findet sich nämlich in der lothringischen und der saarländischen Literatur
immer wieder, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, etwa in dem Roman Der
Zauberer Muzot von Emst Moritz Mungenast oder in dem Roman Das wachsende
Reich von Johannes Kirschweng. Da wölbt sich über den schnell wechselnden
Grenzen der zeitlose Mythos, in die Vorzeit weisend und, utopisch, in die Zukunft:
Lotharingien. Das wölbt sich gerade dann, wenn die Unsicherheiten der Grenz¬
lage, der Zukunft und der jeweils neu zu interpretierenden Vergangenheit eine
spezifische Innerlichkeit produzieren. Das zu enge Spannungsfeld der Soziabilitä¬
ten (lat. sociabilis = vereinbar, verträglich) bricht auf ins nächste "Reich". Das
heißt aber auch: Fluktuation und Konfrontation, die primären Bewegungsvorgänge
in Grenzregionen, werden von der Literatur nur unvollkommen widergespiegelt,
geschweige denn verarbeitet. Statt dessen regieren Innerlichkeit und Mythos der
genannten Art.
Rezeptionsgeschichtlich wirkt sich dies so aus, daß der Großschriftsteiler Munge¬
nast mit seinem Roman bereits 1941, zwei Jahre nach dem Erscheinen, eine Ge¬
samtauflage von 450 000 Exemplaren verzeichnete. Diese Mischung von Fami¬
lienroman, Heimatroman, politischem Roman wurde eher als Balsam für die deut¬
sche Seele, als Linderungsmittel fiir die Schmerzen der Trennung nach dem Ersten
Weltkrieg gelesen, in Deutschland. Das Werk konnte sogar als Beleg für einen
eher gemäßigten Revisionismus gelten, in der Nazizeit. "Lotharingien" allerdings
5
Harig, "Nachbarn aus der Provinz von morgen".
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