Wilfried Fiedler
Die Grenze als Rechtsproblem
Daß eine Grenze ein Rechtsproblem darstellen könne, wird wohl nur den wenig¬
sten bewußt, es sei denn beim Überschreiten jener Linie, die gewöhnlich als
Staatsgrenze bezeichnet wird. Im Zeichen Europas und der fortschreitenden wirt¬
schaftlichen und politischen Integration scheint die Bedeutung von Grenzen über¬
dies zu sinken, sich in eine Domäne allenfalls von nostalgisch gestimmten Juristen
zu verwandeln, im übrigen aber vor allem einen bloßen Erinnerungswert zu
besitzen.
L
Wer sich in diesem Sinne in bezug auf Europa optimistisch gestimmt den vorlie¬
genden Vertragsdokumenten der Europäischen Gemeinschaft (EG) zuwendet, wird
ohne Mühe auf die Einheitliche Europäische Akte (EEA)1 von 1986 und damit auf
die geplante Herstellung eines europäischen Binnenmarktes vom 1.1.1993 an
stoßen. Wohlgefällig wird das Auge auf den durch dieses Dokument geänderten
Vertragsbestimmungen der EG ruhen, insbesondere auf Art. 8a des EWG-
Vertrages. Dort heißt es u. a.: "Der Binnenmarkt umfaßt einen Raum ohne
Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen und
Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet ist." Dieser
"Raum ohne Binnengrenzen" scheint noch vor der Herstellung einer Politischen
Union das Ziel aller Träume von einem unbegrenzten Zusammenleben der Völker
in Europa zu verwirklichen.
Dennoch schleichen sich bei näherer Betrachtung gewisse Zweifel ein. Sie werden
verstärkt durch eine ohne Mühe einholbare Auskunft über die Rechtsnatur einer
Staatsgrenze. Sie ist in der Tat nicht einmal jene gedachte Linie auf der Erdober¬
fläche, die Staaten und Herrschaftsgebiete voneinander scheidet, sondern darüber
hinaus sogar eine Fläche, die sich unterhalb der Erdoberfläche in Richtung auf den
Erdmittelpunkt fortsetzt, ebenso über ihr bis zum Beginn des Weltraums1 2. Die
Grenze als Fläche?
Welch eine unglaubliche, rechtlich aber dennoch zutreffende Vorstellung! Mit ihr
wird deutlich, daß die Formulierung vom "Raum ohne Binnengrenzen" im EWGV
wohl kaum mit der zugrundeliegenden Vorstellung von der Staatsgrenze
gebrochen haben dürfte. Gemeint ist in erster Linie die Freiheit von Grenzkontrol¬
len, die bislang den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und
Kapital über die Staatsgrenzen hinweg behindert haben. Die EEA hat also ledig-
1 Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1986II, S. 1102, 1104 ff.
2 Näher Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band L'l, 2.Aufl.l988, S. 380; Ipsen, Völkerrecht, 3.
Aufl. 1990, S. 278; Fiedler, Art"Staatsgebiet", in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Bd. 5, 7.
Aufl. 1989, Sp. 178 f.
23