Die so erreichte Streitschlichtung galt jedoch als Urteil (sententia, nostrae
decisionis sententia), welches innerhalb von 30 Tagen nach Rückkehr der Delega¬
tionen in ihre Klöster von den dortigen Äbten zu befolgen, praktisch auszuführen
war. Deshalb wurde den Abordnungen der Prozeßparteien je ein Judikatsexemplar
an die Adresse der beiden Äbte mitgegeben, und je ein Judikat findet sich denn
auch in den Klosterarchiven von St.-Aubin und Vendöme (heute in Departemental-
archiven). Beide Stücke galten früher als Originale (Ch. Metais), man wird aber
wohl eher mit B. de Broussillon, Santifaller und Ramackers das Original im Kloster
St.-Aubin und eine gleichzeitig in Tarent von der päpstlichen Kanzlei hergestellte
„amtliche“ Abschrift in der Abtei Vendöme zu sehen haben. Laut Prozeßbericht
wurden die Judikate nach Rückkehr der Delegationen tarn in Vindocinensi quam in
S. Albani capitulo vor den Äbten und Mönchen verlesen und danach die
Urteilsbestimmungen vollzogen. Die Eintragung des Judikats ins Register Urbans
II. ist nicht sicher nachzuweisen, aber als Paschalis II. später auf Betreiben Abt
Gottfrieds von Vendöme nochmals in dieser Sache zu urteilen hatte, zog er Urbans
Judikat von 1092 - vielleicht doch aus den päpstlichen Registern - heran: Ex
praedecessoris nostri...Urbani II papae litteris intelleximusn; er zitierte es sach¬
lich-inhaltlich genau und bestätigte es in seinem eigenen Judikat von 1115.
Vermutlich hat man damals bei der wachsenden Zahl von Gerichtsverfahren die
Eintragung gerade von Judikaten ins päpstliche Register ziemlich konsequent
vorgenommen, da sie sich als sehr nützlich erwies, besonders bei lang dauernden
und später wieder auflebenden Streitigkeiten und Prozessen, und vor allem als
zuverlässiges Beweismittel gegenüber dem Zeugenbeweis durch Beschwörung
unsicherer, angefochtener oder nicht (mehr) vorhandener Urkunden, den man
gelegentlich akzeptierte11 12.
Die meisten übrigen Judikate geben für Erkenntnisse über den Kanzleigeschäfts¬
gang nichts her. Wahrscheinlich haben nicht in allen Fällen beide Prozeßgegner
Judikate erhalten, und was in Urbans II. (verlorenes) Register eingetragen wurde,
wissen wir nicht. Gelegentlich scheint es, als hätte nur der Prozeßgewinner ein
Judikat erhalten, während die unterlegene Partei sich mit einer Judikatsmitteilung
oder Urteilsbestätigung begnügen mußte, wie z. B. im Dependenzstreit zwischen
11 JL 6459, Benevent 1115 Mai 25 (Bouquet 14,88; MlGNE PL 163, 382).
12 JL 5475, Judikatmandat im Metropolitanprozeß Tours-Dol 1093 (MlGNE PL 151,359) und JL 5519
Judikat im gleichen Prozeß 1094, wobei jedoch für Urban II. die Erbringung des ordentlichen
Urkundenbeweises durch Konsultieren des Registers seines Vorgängers Gregors VII. maßgebend war:
Quaesita est in registro b. Gregorii papae VII. Et ita omnino sicut audieramus inventa (MlGNE PL
151,386). - JL 5561 Judikat im Bistumsprozeß Orange-Tricastin (St.-Paul-Trois-Chäteaux) 1095:
Eidesleistung betr. Existenz und Echtheit einer nicht vorgelegten Urkunde (Gail. Christ. Noviss. 6,
Orange (1916), Nr. 58 col. 32 ff.); JL 5658, Judikat im Streit zwischen Bischof von Toulouse und
Kanonikern von St.-Semin: Die Kanoniker beschwören die Echtheit einer vom Bischof angefochtenen
Papsturkunde, welche ihre Rechtsansprüche stützt (An. Jur. Pont. 10,551).
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