Full text: Zwischen Saar und Mosel

auf Sympathie, die sich anders als die meisten Saarländer auf den Boden des 
Versailler Vertrages gestellt hatten und der Völkerverständigung zu dienen hoff¬ 
ten. 
Mit der Herrschaftsübernahme Hitlers an der Saar 1935, der Wiedereinführung der 
Wehrpflicht im kommenden Jahr und der nicht zu übersehenden Politik der 
Kriegsvorbereitung stellte sich die Frage des Kriegsdienstes erstmals konkret¬ 
unmittelbar. Während die katholischen Bischöfe als zentrale meinungsbildende 
Agenturen auch weiterhin propagierten, daß der Christ den Waffengang für’s 
Vaterland selbst im Kriege nicht verweigern dürfe, und Hitler und seine Propagan¬ 
dastrategen alles daran setzten, die Menschen zum Sterben für die Nation zu 
berauschen, setzte in Teilen der verbliebenen antinationalsozialistischen Milieus ein 
Umdenkungsprozeß ein. Während die große Mehrheit der Saarländer Kriegsdienst¬ 
verweigerung und Fahnenflucht auch weiterhin als Verrat, nationale Untugend und 
„Feigheit vor dem Feind“ betrachtete und gewillt war, blindlings in den Krieg zu 
ziehen, relativierten sich bei Einzelnen die Einstellungen zum Militärdienst und zur 
Frage der Kriegsdienstverweigerung, während zugleich - motiviert durch das 
Novembertrauma 1918 - die Strafrechtsbestimmungen für militärischen Ungehor¬ 
sam massiv verschärft wurden. Hatte man bislang das Wesentliche der Fahnen¬ 
flucht im Verstoß gegen militärstrafrechtliche Bestimmungen und in der Gefähr¬ 
dung des vollen Mannschaftsbestandes gesehen, galt Fahnenflucht unter den 
Bedingungen der propagierten „Volksgemeinschaft“ fortan als „gemeinschaftswid¬ 
rige Tat“ und als „verräterischer Handlung gegenüber Führer und Volk“. Gerade im 
Kriege wirke dieser Treuebruch umso schwerer. Und so war es nur konsequent, daß 
die Militärjustiz in Anlehnung an die Vorstellung vom „Volksschädling“ schon 
bald den Begriff des „Gemeinschafts- und Wehrmachtsschädlings“ kreierte, der mit 
allen Mitteln aus der Volksgemeinschaft „ausgemerzt“ werden müsse. Der Tatbe¬ 
stand der Fahnenflucht hatte im NS-Staat somit eine gänzlich neue politische 
Konnotation erhalten5. 
Im Rahmen des von Hans-Walter Herrmann geleiteten Forschungsprojektes „Wi¬ 
derstand und Verweigerung im Saarland 1935-1945“ sowie bei ergänzenden 
Recherchen konnten wir 67 junge Saarländer identifizieren, die entweder bereits 
vor dem Eintritt in Hitlers Wehrmacht den Kriegsdienst verweigerten, sich durch 
illegale Auswanderung oder aktive Wehrunwürdigkeit dem Kriegsdienst entzogen, 
die sich unerlaubt von der Truppe entfernten bzw. desertierten, die als Soldaten 
öffentlich den Krieg kritisierten, die überliefen, Befehle verweigerten und sich aktiv 
am Widerstand gegen Hitler beteiligten. Verzerrt durch die Antragsvor¬ 
aussetzungen der Entschädigungsgesetzgebung und durch die auch nach 1945 
weiterhin wirksame Diffamierung und Stigmatisierung ungehorsamer Soldaten in 
der Öffentlichkeit bildete sich jedoch nur ein Teil der Verweigerungs- und 
Widerstandshandlungen saarländischer Soldaten in den Akten des Landesentschädi¬ 
gungsamtes ab. Dabei handelte es sich zu etwa zwei Drittel (59,7 %) um ehemalige 
5 H. Pietzner, Die Fahnenflucht im Wehrstrafrecht, Würzburg 1940, S. 38; R. FREISLER, Der 
Treuegedanke im neuen Strafrecht, in: Deutsches Strafrecht (1936), S. 196; zur Ideologisierung des 
Militärstrafrechts im Dritten Reich grundlegend M. Messerschmidt/F. WÜLLNER, Die Wehrmacht¬ 
justiz im Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987. 
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