re, Überläufer und Soldaten im Widerstand als personae non gratae behandelt oder
finden allenfalls peripher Erwähnung. Dabei wissen wir längst, daß die angestrebte
„Volksgemeinschaft“ weder im Frieden noch im Krieg jemals auch nur ansatzweise
vollendet wurde, der Typus des „politischen Soldaten“ eine propagandistische
Wunschvorstellung blieb und selbst eine „totale Institution“ wie die deutsche
Wehrmacht nie in der Lage war, hundertprozentigen Gehorsam zu erzwingen.
Widersprüche und Ambivalenzen, Nischen und Rückzugsräume blieben bestehen,
die Dissens, Verweigerung und Widerstand möglich machten und provozierten.
Ohne Hitlers Politik ernsthaft zu gefährden und die militärische Schlagkraft der
Wehrmacht zu unterminieren, gewannen Dissens und Verweigerung besonders zu
Kriegsende Massencharakter. Vor allem die neuere Lokal- und Regionalgeschichts¬
forschung hat das Schweigen über den Ungehorsam in der deutschen Wehrmacht
durchbrochen und hier Pionierarbeit geleistet3.
Den Kriegsdienst für’s Vaterland zu verweigern, Befehle nicht auszuführen,
fahnenflüchtig zu werden oder gar zum Gegner überzulaufen, bedeutete, bewußt
oder unbewußt mit einer seit Jahrzehnten währenden Tradition des Nationalismus
und Militarismus zu brechen, wie sich diese auch an der Saar besonders seit dem
letzten Quartal des 19. Jahrhunderts herausgebildet und durch die Abtrennungszeit
nach dem Ersten Weltkrieg noch verstärkt hatte. Im öffentlichen Leben hatten sich
diese beiden Zentralideologien des Kaiserreichs in einem politischen Kult verdich¬
tet, dem eine eigenständige Sozialisationsfunktion zukam: in einem weitverbreite¬
ten Kriegerdenkmalskult, in einem Kalender von nationalistischen und militaristi¬
schen Feiern sowie in der Ausbreitung des Kriegervereinswesens, das teilsweise
den Charakter einer Volksbewegung annahm und an dem gerade die unteren
Bevölkerungsschichten nicht unwesentlich partizipierten4. Militärbegeisterung und
vaterländisches Bekenntnis, Kriegssehnsucht und Totenkult waren somit keines¬
wegs nur eine Sache des nationalistischen Kleinbürgertums, sondern auch in der
katholischen Arbeiterschaft und unter den Anhängern der jungen Sozialdemokratie
verbreitet, wie beonders der Erste Weltkrieg anschaulich belegte. Der Formenkanon
sozialdemokratischer Veranstaltungen und die Sprachmuster sozialistischer Agita¬
tion spiegelten vielfältig den milieu- und parteiübergreifenden militaristischen Kult
wider. Alternativen hierzu - Formen einer aktiven Friedensarbeit etwa - hatten es
da naturgemäß schwer. Antikriegstage und pazifistische Organisationen fanden nur
wenige Anhänger. Wenn überhaupt so traf die Idee der Kriegsdienstverweigerung
und eines allgemeinen Pazifismus höchstens bei vereinzelten Anhängern des
SPD-Nachwuchses und bei den kleinen internationalistisch orientierten Gruppen
3 So etwa J. Kammler, Ich habe die Metzelei satt und laufe über... Kasseler Soldaten zwischen
Verweigerung und Widerstand (1939-1945). Eine Dokumentation, Fuldabrück 1985; G. Fahle,
Verweigern - Weglaufen - Zersetzen. Deutsche Militärjustiz und ungehorsame Soldaten 1939-1945,
Das Beispiel Ems-Jade, Bremen 1990; jetzt auch G. Paul, Ungehorsame Soldaten. Dissens.
Verweigerung und Widerstand deutscher Soldaten (1939-1945), St. Ingbert 1994, für das Saarland.
4 Allgemein hierzu H.U. Wehler, Das Deutsche Kaiserreich, Göttingen 19835, sowie saarspezifisch
bislang lediglich L. Linsmayer, Politische Kultur im Saargebiet 1920-1932, St. Ingbert 1992; J.
Hannig, Im Schatten von Spichern: Militarismus und Nationalismus im Saarrevier vor dem Ersten
Weltkrieg, in: „Als der Krieg über uns gekommen war . . .“ Die Saarregion und der Erste Weltkrieg.
Katalog zur Ausstellung des Regionalgeschichtlichen Museums im Saarbrücker Schloß, Saarbrücken
1993, S. 21-37.
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