der Aufstockung von 1764 entsteht diese - zweifellos beabsichtigte - Vorstellung.
Das Untergeschoß (der alte gotische Rechteckchor) dient seitdem als Sakristei,
doch zeugen von der einstigen Funktion als Chor noch die reiche spätgotische
Sakramentsnische, die gotischen Maßwerkfenster, das Kreuzrippengewölbe und die
Reste der bemerkenswerten Wandmalereien des späten 14. Jahrhunderts, eines der
wenigen Beispiele im Saarland. Sie traten gelegentlich der schweren Beschädigun¬
gen der Kirche im 2. Weltkrieg zutage35.
Auch für das 19. Jahrhundert bleibt die Chorturmkirche absolute Ausnahme. Im
Saarland gibt es nur ein - allerdings höchst monumentales Beispiel: Die katholi¬
sche Pfarrkiche St. Michael in Homburg (Abb. 19-20). Sie wurde 1837—41 nach
den Plänen des kgl. bayerischen Civil-Bau-Inspektors August von Voit erbaut. Aus
der Nordostwand des weiträumigen Saalbaues von fünf Achsen springt der
mächtige Chorturm mit fünf Seiten des gestreckten Achtecks frei hervor, beider¬
seits flankiert von den niedrigeren Sakristeianbauten. Die Kirche ist ein frühes
Beispiel der Neuromantik (dem sog. „Rundbogenstil“, wie ihn die Zeit nannte)36.
Umso mehr überrascht es dann, daß seit den 20er Jahren unseres Jahrhunderts
tatsächlich wieder echte Chorturmkirchen gebaut werden. Auch im Saarland finden
sich Beispiele. So errichtet der Trierer Architekt Heinrich Otto Vogel (der bereits
1950-53 romanische Chortürme in die Neubauten der katholischen Pfarrkiche in
Kanzem/Krs. Saarburg, 1958 in die katholische Pfarrkirche in Trier-Pallien,
1970/71 in die evangelische Kirche in Wieswiller/Krs. Kusel übernimmt) 1953 die
katholische Pfarrkiche in Niederleuken/Krs. Saarburg und - nun im Saarland -
1957-58 die evangelische Kirche in Beckingen (Abb. 21) als typische Chorturm¬
kirchen37. Anregungen erhielt Vogel unmittelbar u.a. von Albert Boßlet, der
ebenfalls in der benachbarten Pfalz zahlreiche Chorturmkirchen bereits in den 20er
und 30er Jahren errichtet hatte. Hervorzuheben ist hier vor allem die dem Saarland
unmittelbar benachbarte katholische St. Pirminius-Kirche in Hornbach (Abb. 22)
von 1926-30, die - in Bruchsteinmauerwerk erbaut, mit mächtigen Strebepfeilern
und Rundbogenfenstern - jene für Boßlet so charakteristische schöpferische
Variante romanischer Baukunst zeigt. Kein Zweifel, daß der mit Vogel befreundete
Architekt Rudolf Krüger in Saarbrücken diese Kirche kannte und von ihr und - wie
von Krüger selbst betont - auch von German Besteimeyers evangelischer Kirche in
Bad Kohlgrub von 1934 angeregt wurde zu seinen beiden evangelischen Chorturm¬
kirchen in Jägersfreude (heute Saarbrücken) (Abb. 23 u. 24) von 1933-37 und
Neuscheidt (heute Saarbrücken-Schafbrücke) (Abb. 25 u. 26) von 1953 (völliger
Umbau 1983). Bezeichnend bei beiden Kirchen ist der geschichtliche Bezug: In
Jägersfreude besitzt das Schiff einen offenen Dachstuhl, der „Chor“ wurde durch
35 Dazu neuerdings Barbara Weyandt, Die Pfarrkirche St. Martin zu Gersheim-Medelsheim im
Bliesgau = Rhein. Kunststätten 352, Neuss 1990.
36 B. H. Bonkhoff (wie Anm. 21); H.J. Kotzur, Forschungen zum Leben und Werk des Architekten
August von Voit, Bamberg 1977.
37 Dazu Claudia Maas, Das Werk des Architekten Heinrich Otto Vogel - Neubau und Denkmalpflege
unter dem Aspekte des „historischen Gedächtnisses“, Saarbrücken: Phil.Diss. 1992, Saarbrücken
1993.
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