Interessanterweise stellte gerade in St. Johann, wo auch die niedrigsten Steuersätze
bestanden, das Zentrum eine relativ starke Oppositionsgruppe. Die Tatsache, daß hier
eine der bedeutendsten und traditionsreichsten katholischen Pfarreien im Raum der
ehemals protestantischen Grafschaft Saarbrücken ansässig war, kann dieses Phänomen
keineswegs hinreichend erklären, denn die immensen Bevölkerungsverschiebungen im
Zuge der Industrialisierung hatten in allen drei Saarstädten quasi zur Egalisierung des
Konfessionsverhältnisses geführt. Vielmehr wurde in St. Johann im Zusammenspiel
von Steuer- und Wahlgesetzgebung ein bisher wenig beachteter Aspekt des plutokrati-
schen Dreiklassenwahlrechts wirksam, das ansonsten "den Liberalen selbst dann noch
bequeme Mehrheiten in den Gemeindevertretungen [sicherte], als diese bei den
Reichstagswahlen deutlich hinter Zentrum und/oder Sozialdemokratie zurückgefallen
waren"28.
Die Grenze zur Wahlberechtigung zwischen den ersten beiden und der dritten
Wählerklasse war abhängig von einem Durchschnittssteuersatz, der sich aus dem
arithmetischen Mittel der individuellen Steuerveranlagungsgesamtbeträge aller Steuer¬
pflichtigen einer Stadt ergab.29 Dieser Durchschnittssteuersatz variierte teils er¬
heblich gemäß den nach KAG von der Kommune festzusetzenden Kommunalab¬
gaben, welche zumindest seit der Jahrhundertwende den größten Anteil des Gesamt¬
steuerbetrages ausmachten. In St. Johann lag aufgrund seiner niedrigen Steuerzu¬
schläge der für die Wahlberechtigung in der ersten bzw. zweiten Klasse zu zahlende
Gesamtsteuerbetrag wesentlich niedriger als in seinen beiden Nachbargemeinden. Im
Vergleich hierzu hoben in Malstatt-Burbach und Saarbrücken die oberen steuerlichen
Extremwerte, begünstigt durch die progressive Staffelung der direkten Steuern - und
beim arithmetischen Mittel fallen Extremwerte überproportional ins Gewicht -, den
Durchschnittssteuersatz deutlich an, wodurch "die Wähler der I. und II. Klasse weiter¬
hin einen sehr kleinen [...] außergewöhnlich wohlhabenden Ausschnitt der städtischen
Gesellschaft"30 bildeten, die erfahrungsgemäß dem liberalen Lager nahestanden. In
St. Johann dagegen besaßen auch mittlere und untere Einkommensgruppen die
Chance, zumindest in der zweiten Klasse wählen zu können, was dem Zentrum in der
Protestanten. Vgl. StadtA SB, Best. SB, Nr. 660. Zum Gegensatz Zentrum-Nationalliberale in
den rheinischen Städten vgl. Lenger (Anm. 3), S. 113ff.
28 Lenger (Anm. 3), S. 120. Vgl. hierzu allg. Helmuth Croon, Die gesellschaftlichen Auswir¬
kungen des Gemeindewahlrechts in den Gemeinden und Kreisen des Rheinlandes und West¬
falens im 19. Jahrhundert, Köln/Opladen 1960.
29 Vgl. Wahlgesetz v. 30. Juni 1900. Der Begriff ’Steuerveranlagungsbetrag’ besagt, daß nicht
die tatsächlich gezahlten, sondern die veranlagten Steuern zur Berechnung des Durchschnitts¬
steuersatzes herangezogen wurden. Dies betraf alle veranlagten Steuern (Staats-, Kreis-, Be¬
zirks- u. Kommunalsteuem), nicht wie bei der Anrechnung zur Wahlberechtigung (Wahlzen¬
sus) ausschließlich die direkten Staatssteuem.
30 Lenger (Anm. 3), S. 120.
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