2. Durch die fiktive Genealogie der ersten Germanenkönige wird der Versuch unter¬
nommen. die Geschichte Sarrebourgs in eine biblische Tradition zu stellen, indem
man Tuiscus. den „Vater der Germanen“ zum Urenkel Noahs deklarierte. Ihr hohes
Alter und ihre biblischen Wurzeln sollen die Kaufmannsstadt2 Sarrebourg in eine
sakrale Tradition hineinstellen, wie sie seit dem frühen Mittelalter greifbar ist, aller¬
dings sonst nur für die Bischofsstädte und nicht für Orte mittlerer Größe, die ledig¬
lich Sitz eines Archidiakonats waren.3
3. Es fällt auf. daß der Sarrebourger Autor aus den diversen Traditionen, die Städte¬
gründungen auf gleichnamige Heldengestalten zurückführen, das Trierer Beispiel
herausgreift, und nicht das Metzer, obgleich das doch in mehreren Werken des 14.
und 15. Jhs. dargestellt ist. Es scheint paradox, daß man im Hauptort eines Metzer
Archidiakonats und Sitz eines Stifts, das dem Bistumspatron geweiht ist, die Mutter¬
stadt übergeht und stattdessen den Ursprung Sarrebourgs in eine germanische Tradi¬
tion stellt. Der Metzer Chronist Philippe de Vigneulles seinerseits scheint umgekehrt
diese Sarrebourger Tradition nicht zu kennen, wohl aber die kurzen Gründungsbe¬
richte über Trier, die drei lothringischen Bischofsstädte sowie Diedenhofen/Thion-
ville, Mousson, Scarpone und Vaucouleurs4 5.
Ich überlasse es meinen auf neuere Geschichte spezialisierten Kollegen, zu untersu¬
chen, ob der Zugriff der Herzoge von Lothringen auf die Stadt, de facto ab 1464, de
jure ab 1562, oder gar die Einbeziehung Sarrebourgs in das französische Königreich
1661 bei der plötzlichen Wiederbelebung dieses historischen Bewußtseins eine Rolle
gespielt haben können.
Auch wenn dieser kurze Text nur in einer späten Fassung überliefert ist, scheint er
mir doch in wenigstens zwei Punkten für Mediävisten von Belang zu sein:
Erstens spiegelt er ein ausgeprägtes städtisches Bewußtsein wider, für das man mittel¬
alterliche Wurzeln annehmen darf.
Zweitens sind das Fehlen eines Bezugs zur natürlichen Metropole Metz und die Ent¬
scheidung für eine rein germanische Tradition bemerkenswert. Letztere wurde durch
2 Der älteste Beleg für die Bezeichnung „Kaufmannsaarburg“ stammt aus dem Jahre 1418 (H.
Hiegel, Dictionnaire étymologique des noms de lieux de la Moselle, Sarreguemines, 1986):
opidum de Sarburgo vulgariter nomination Kaufman Sarburg.
5 A. Haverkamp, „Heilige Städte“ im hohen Mittelalter , in: „Mentalitäten im Mittelalter“
(Hrsg. Fr. Graus), Sigmaringen 1987 (= Vorträge und Forschungen, XXXV), S. 119-156.
4 Philippe de Vigneulles, Chronique (Ed. Ch. Bruneau, Metz 1927), Bd. I, S. 8ff.
5 Erst 1213 wird der populus sarreburgensis urkundlich erwähnt: AD Mos., G 1636. 1222 beur¬
kunden die Bürger von Sarrebourg, daß sie einige Jahre zuvor mit ihren Spenden ein Hospital
in ihrer Stadt erbaut haben, und siegeln die Urkunde mit dem Stadtsiegel (AD Mos. H 4688).
Sechs Jahre später schließen sie einen Vertrag mit den Bürgern von Straßburg (vgl. Anm. 15).
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