montanismus“ den antirömischen Affekt. Während die Begriffe „deutsch“ und „prote¬
stantisch“ miteinander verschmolzen, erschien das parallel dazu formulierte päpstliche
Unfehlbarkeitsdogma als externer Angriff auf die im Nationalstaat kulminierende
Spur Gottes von 1517 bis 1871, auf das von Priesterherrschaft befreite heilige
evangelische Reich deutscher Nation, wie Hofprediger Stoecker befand.26 Diese
etatistisch-nationalistische Sichtweise, mit der sich liberale Abwehr von Aberglauben
und Fortschrittsfeindlichkeit verbanden,27 erhielt im Saarrevier besondere Nahrung
durch die virulente Wundergläubigkeit der katholischen Unterschichten und die
permanenten Zusammenstöße mit der Staatsgewalt, insbesondere seit der angeblichen
Marienerscheinung von Marpingen im Juli 1876.28 29 Das „Evangelische Wochenblatt“
fühlte sich an den finstern heidnischen Fetischdienst erinnert und zollte dem harten
Durchgreifen von Seiten des Staates uneingeschränkten Beifall: Man sucht durch die
Marpinger Wunder die Macht und Herrlichkeit der römischen Kirche zu fördern. Es
soll ein zweites Lourdes in Deutschland gegründet werden. Und diese Gründung wäre
gelungen, wenn die Behörden die Bewegung nicht im Zaume gehalten hätten.19
Selbst in der „großen Streikzeit“ 1889-1893 - gewissermaßen die empirische Nagel¬
probe meiner These - hielt das Bündnis zwischen evangelischen Arbeitern, Bürgertum
und Beamtenschaft: Nach seinen Statuten verstand sich der Rechtsschutzverein der
Bergarbeiter zwar als überkonfessionelle Gewerkschaft, faktisch handelte es sich indes
um eine katholische Gründung, in der Protestanten nie eine nennenswerte Rolle
spielten.30 Die evangelische Geistlichkeit, die den Verband von vornherein als äußerst
schlaue ultramontane Macherei attackierte,31 setzte ihm seit Herbst 1889 Evangeli¬
sche Arbeitervereine mit eindeutig wirtschaftsfriedlicher Zielsetzung entgegen, die sich
immer mehr als Instrumente zur Erhaltung des sozialen Status quo begriffen.32 Der
damit errichtete Wall gegen das Eindringen gewerkschaftlicher Gedanken in die
26 Zit. bei Walter Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlich-soziale Bewegung,
2. Aufl. Hamburg 1935, S. 28.
27 Vgl. Ernst Walter Zeeden, Die katholische Kirche in der Sicht des deutschen Protestantismus
im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 72 (1953), S. 433-456, bes. S. 454; für Bayern
Blessing, Staat und Kirche, S. 195-202.
28 Vgl. Gottfried Korff, Kulturkampf und Volksfrömmigkeit, in: Schieder: Volksreligiosität,
S. 137-151; Klaus-Michael Mallmann, „Maria hilf, vernichte unsere Feinde“. Die Mariener¬
scheinung von Marpingen 1876, in: ders./Paul/Schock/Klimmt, S. 48-50.
29 Evangelisches Wochenblatt v. 20. 5. (Nr. 20) und 10. 6. 1877 (Nr. 23).
30 Vgl. Klaus-Michael Mallmann, Die Anfänge der Bergarbeiterbewegung an der Saar
(1848-1904), Saarbrücken 1981, S. 120-130.
31 Evangelisches Wochenblatt v. 22. 9. 1889 (Nr. 38).
32 Vgl. Mallmann, Anfänge, S. 131-135, 175, 278; zur Entwicklung in der bayerischen
Saarpfalz Heinz Friedei, Der Beginn der christlichen Arbeiterbewegung in Kaiserslautern und
der übrigen Pfalz, in: Blätter für Pfälzische Kirchengeschichte und Religiöse Volkskunde 42
(1975), S. 71-78 sowie Hans Dieter Denk, Die christliche Arbeiterbewegung in Bayern bis
zum Ersten Weltkrieg, Mainz 1980, S. 35-46; den fundiertesten Gesamtüberblick bietet
immer noch Bruno Feyerabend, Die evangelischen Arbeitervereine. Eine Untersuchung über
ihre religiösen, geistigen, gesellschaftlichen und politischen Grundlagen und über ihre
Entwicklung bis zum ersten Weltkrieg, Diss. Frankfurt 1955 sowie neuerdings Klaus Martin
Hofmann, Die Evangelische Arbeitervereinsbewegung 1882-1914, Bielefeld 1988; vorzüglich
in konfessionell vergleichender Perspektive Josef Mooser, Arbeiter, Bürger und Priester in
den konfessionellen Arbeitervereinen im deutschen Kaiserreich, 1880-1914, in: Jürgen Kocka
(Hrsg.), Arbeiter und Bürger im 19. Jahrhundert. Varianten ihres Verhältnisses im europäi¬
schen Vergleich, München 1986, S. 79-105.
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