Full text: Das Saarrevier zwischen Reichsgründung und Kriegsende

waren lothringische Eisenwaren dort jetzt nicht mehr konkurrenzfähig, und die 
Betriebe mußten versuchen, ihre Produktion im Reich abzusetzen; und hier, was 
naheliegt, vornehmlich in Süddeutschland, der bisherigen Domäne der Saarhütten.46 
Andererseits setzte sich mit dem Bessemerverfahren seit den 60er Jahren in der 
Stahlerzeugung eine Technologie durch, welche die Gewinnungsprozedur gegenüber 
dem bis dahin üblichen, arbeitsintensiven Puddelverfahren von 24 Stunden auf 
20 Minuten und die Verarbeitungskosten um 90 % reduzierte. Dieses Verfahren aber 
blieb den Saarhütten wegen des hohen Phosphorgehalts der Minette verschlossen, 
während der hochwertige Bessemerstahl das sogenannte Schweißeisen aus vielen 
Marktsegmenten verdrängte.47 In der Konsequenz verloren die Saarhütten bspw. bis 
Mitte der 70er Jahre fast alle Aufträge für Eisenbahnschienen, obwohl der Eisenbahn¬ 
bau noch beträchtlich weiterexpandierte.48 
Die oben erwähnte Erhöhung der Eisenbahntarife zum 1.8. 1874 tat ein übriges.49 
Summa summarum hatte die Eisenindustrie im Gegensatz zum Bergbau nicht nur 
einen starken Verbrauchsrückgang um rund 50 % zu verkraften.50 Vielmehr sah sie 
wegen der ausländischen Zollbeschränkungen keine Möglichkeit, den Rückgang der 
Binnennachfrage durch Forcierung des Exports zu kompensieren. Gleichzeitig mußte 
sie sich einer starken inländischen Konkurrenz erwehren, schwere produktionstechni¬ 
sche Nachteile auszugleichen suchen und stark beeinträchtigende Frachttarife in Kauf 
nehmen. So konnte es nicht ausbleiben, daß der Nachfrage- und Preisrutsch trotz 
fallender Selbstkosten zu Krisenerscheinungen führte.51 
Die junge Völklinger Hütte überstand den Engpaß mangels fehlender Rücklagen 
nicht. Sie wurde im Mai 1879, als das Konjunkturtal schon durchschritten war, 
endgültig stillgelegt. Fast 400 Arbeiter verloren ihren Job.52 Der 1756 gegründeten 
und seit 1868 von Rudolph Böcking groß ausgebauten Haiberger Hütte, schon 
damals auf die Gießerei spezialisiert, wäre es sicher ähnlich ergangen, hätte Carl 
46 H. Müller, Übererzeugung, S. 25 f.; Burbach, S. 40 ff. und 50; F. Kloevekorn, Haiberg, 
S. 61. Die lothringischen Werke vermochten nicht zuletzt günstiger zu produzieren, weil sie 
auf dem Erz saßen. Im Hochofen kommen auf 3 t Erz nur 1,2 t Koks. Reichsland, Bd. 1, 
S. 177 f. 
47 Burbach, S. 32; W. Feldenkirchen, Eisenindustrie, S. 31 und 39; R. Nutzinger u. a., 
Völklingen, S. 6; Neunkirchen, S. 38 f. 
48 H. Müller, Übererzeugung, S. 113; Schienenproduktton der Burbacher Hütte 1871/72: 
17 810 t, 1875/76: 4 303 t, 1876/77: 746 t. Das deutsche Streckennetz wuchs noch 1875 um 
2 436 km. H. Mottek, Gründerkrise, S. 93. 
49 JHK 1874-77; W. Born, Groß-Eisenindustrie, S. 33 f. Differentialtarife ermöglichten es der 
französichen Konkurrenz, unter Umständen billiger ins Reich zu transportieren als die 
Saarhütten. Der Frachtanteil an den Selbstkosten schwankte je nach Produkt zwischen 20 und 
40 %. 1876 wurde der diskriminierende Frachtzuschlag für Erze und Fertigfabrikate wieder 
aufgehoben. Vgl. dazu auch Anm. 63. 
50 Nach A. Spiethoff, Wechsellagen, Tafel 13, sank der Pro-Kopf-Verbrauch an Eisen von 
71,5 kg 1873 auf 34,5 kg 1879 oder in absoluten Zahlen von 2,95 auf 1,52 Mio. t. Die 
Produktion fiel ungleich langsamer, von 2,24 auf 1,85 Mio. t in 1876, um 1879 wieder 
2,22 Mio. t zu erreichen; Tafel 20. 
51 H. Müller, Übererzeugung, S. 27 ff. 
52 R. Nutzinger u. a., Völklingen, S. 6. Das Ausbleiben von Schienenaufträgen spielte dabei 
eine entscheidende Rolle. Schweißeiserne Schwellen blieben das einzige absetzbare Massenpro¬ 
dukt. A. Tille, Haus Röchling, S. 192 ff. 
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