bestimmungsrechtes gefährdet. Noch am gleichen Tag (28. März 1919) unternahm
Clemenceau einen weiteren Versuch, den amerikanischen Präsidenten von der
Rechtmäßigkeit der Annexion des Saarbeckens zu überzeugen, indem er nun mora¬
lische Argumente ins Feld führte:
„II y a là [an der Saar - F.B,] 150.000 hommes qui sont des Français. Ces hommes, qui ont
envoyé en 1918 des adresses au président Poincaré, ont, eux aussi, droit à la justice. Vous voulez
respecter les droits des Allemands, moi aussi. Mais tenez compte du droit de ces Français, -
comme vous aurez à tenir compte du droit historique de la Bohême et de la Pologne.“87
Da auch dieser Vorstoß nicht von Erfolg gekrönt war, verzichtete die französische
Delegation künftig auf ihre Forderung nach Annexion der Saar; eine weitere Note*8,
die am folgenden Tag vorgelegt wurde, ließ Konzessionen an Wilson erkennen:
Frankreich beanspruchte zwar weiterhin die „propriété perpétuelle“ an den Saar¬
gruben, signalisierte aber in der Frage der staatsrechtlichen Zugehörigkeit des Gebie¬
tes seine Kompromißbereitschaft, Vorübergehend solle die Saar weder unter die
Souveränität Deutschlands noch Frankreichs gestellt, sondern dem Schutz des
Völkerbundes anvertraut werden. Nach Ablauf einer Frist von 15 Jahren - „prévu
pour laisser le temps agir“ - sollte die Bevölkerung des Gebietes die Möglichkeit
erhalten, für Frankreich oder Deutschland zu optieren89. Es bedurfte weiterer zäher
Verhandlungen, bis Mitte April eine Dreierkommission den Text des vorläufigen
Saarstatuts entwarf, dessen 46 Paragraphen vom Viererrat verabschiedet wurden90.
Drei Wochen später, am 7. Mai, wurden der deutschen Delegation in Versailles die
„Friedensbedingungen der alliierten und assoziierten Regierungen“ übergeben. Mit
ihrem intransigenten Auftreten trug sie ebenso wie das am 20. Juni zurückgetretene
Kabinett Scheidemann eine entscheidende Mitschuld an der anschließenden partei-
und milieuübergreifenden Diskreditierung des Vertragswerkes. Zweifellos bestand
eine Diskrepanz zwischen den ideellen Grundsätzen des amerikanischen Präsidenten
und den tatsächlichen Bestimmungen des Vertrages; durch das konsequente Nähren
der Hoffnung auf einen Rechtsfrieden im Zeichen von Ausgleich und Verständigung
schürten die Verantwortlichen der deutschen (Außen-) Politik aber unerfüllbare
Erwartungen. Die innere Distanz der desillusionierten Bevölkerung und die Ableh¬
nung des Vertragswerkes wurden durch ein derartiges Vorgehen geradezu provoziert;
erst hierdurch entstand der Eindruck der ohnmächtigen Kapitulation vor der Gewalt
und Macht der Alliierten. Wenngleich das Unvermögen, die deutsche Schuld am und
im Kriege schon ein halbes Jahr nach Einstellung der Kampfhandlungen zu akzeptie¬
ren. diese Haltung erklären dürfte, wurde so der späteren Instrumentalisierung des
87 Ebd.. S. 292 f. Zur publizistischen Auseinandersetzung um diese bald so titulierte „Saarlüge“ siehe Kap.
4.3.
88 Vgl. Note sur la question de la Sarre (29.03.19), in: Ebd., S. 294 ff.
89 Während dieser 15jährigen Periode sollten die Bewohner des Gebietes, das Tardieu in Abgrenzung zur
„Lorraine de Metz et de Thionville“ geschickt als „Lorraine de Sarrebruck“ bezeichnete (ebd., S. 296)
lediglich für die Angliederung an Frankreich plädieren dürfen.
90 Vgl. Groten: Urkunden zur Entstehungsgeschichte des Saarstatuts.
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