grenze an den Rhein einen wirkungsvollen Schutz versprachen. Die damit verbunde¬
ne Rückkehr des Elsaß und Lothringens blieb in den vier Friedensjahrzehnten zwar
als Wunsch präsent, ein Revanchekrieg für die verlorenen Ostdepartements hätte in
Frankreich aber keine Mehrheit hinter sich gehabt. Erst mit dem Einmarsch deutscher
Truppen in Belgien 1914 entwickelte sich die Rückgabe Elsaß-Lothringens zu einem
konkreten französischen Kriegsziel73, das in allen politischen Lagern Unterstützung
fand. Die Forderung nach territorialem Zugewinn auf Kosten des Reiches wurde bei
Kriegsausbruch hingegen nur von der extremen Rechten thematisiert74 75. Folglich muß
bei den französischen Kriegszielen differenziert werden: Auf der einen Seite standen
die Konzepte und Strategien des offiziellen Frankreichs, wie sie von den verschiede¬
nen Kriegskabinetten zwischen 1914 und 1918 auch in der Öffentlichkeit vertreten
wurden. Ausmaß und Inhalte der offiziellen Regierungsziele lassen sich an der
aktuellen Entwicklung der Lage auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen nach¬
zeichnen73. Die verantwortlichen Politiker und Militärs sahen sich auf der anderen
Seite mit den illusorisch-radikalen Plänen französischer Publ izisten unterschiedlicher
politischer Couleur sowie diversen Konzepten der französischen Schwerindustrie
konfrontiert, die sich mit den ökonomischen Aspekten der Gewinnung des Saarbek-
kens beschäftigte76. Einigkeit herrschte aber darüber, daß sich Frankreich nach dem
Krieg keinesfalls in der Situation befinden dürfe, wirtschaftlich von Deutschland
abhängig zu sein. Da die Verschiebung des schwerindustriellen Zentrums in Europa
von Deutschland nach Frankreich ohnehin der Intention der französischen Industrie
entsprach, sollte der Nachbar für eine möglichst lange Zeit zu Kohlenlieferungen aus
den Saargruben sowie den qualitativ hochwertigeren linksrheinischen Revieren
gezwungen werden. Während ein wirtschaftlich geschwächtes Deutschland somit das
französische Kohlendefizit verringern sollte, war es gleichzeitig als Abnehmer des
französischen Erz- und Metallüberschusses vorgesehen.
Gegenüber der Öffentlichkeit und insbesondere ihren angelsächsischen Alliieren
hielten die Pariser Regierungen an der offiziellen Linie fest, der zufolge Frankreich
lediglich die Rückgewinnung Elsaß-Lothringens als Kriegsziet anstrebe. Auch wenn
sich diese Flaltung bis Kriegsende nicht wesentlich änderte, sollten fehlende Äuße¬
rungen in Regierungserklärungen und Kammerdebatten nicht zu der Vermutung
verleiten, daß die Rhein- und damit auch Saarambitionen tatsächlich aufgegeben
worden seien. Die Ziele wurden lediglich nicht mehr in der Öffentlichkeit diskutiert.
1 Vgl. ROTH: Die Rückkehr Elsaß-Lothringens, S. 126 ff.
74 So wurde schon im September 1914 in einer Artikelserie die Zerstückelung des Deutschen Reiches
gefordert: Vgl. Reimer, S. 49. Vgl. auch Kern, S. 11-16.
75 RENOUViN unterschied bereits in seiner wegweisenden Studie von 1966 drei Phasen in Abhängigkeit
von der aktuellen Kriegsentwicklung. Die Wechselwirkung zwischen politischen und wirtschaftlichen
Zielen untersuchte SOUTOU: L’oret le sang, S. 109-229. Vgl. auch DERS.: La France et les Marches de
1 'Est; DERS.: Die Kriegsziele Frankreichs im Ersten Weltkrieg; KÖHLER: Novemberrevolution, S.
189-224. Zur französischen Rheintheorie vgl. KERN. Eine Sammlung französischer Äußerungen zur
Saar während des Krieges bei: Hellwig/ OLLMERT, in: LA Saarbrücken, К 62/ 1134, S. 2-6.
76 Vgl. im folgenden: STEINMEYER, S. 56 ff.; SOUTOU: L'or et le sang, S. 183 f. und S. 777-781.
25