politischen Bewußtseins in der Bevölkerung, so existierten neben den kommunalen
Vertretungen keine Foren zur Herausbildung eines eigenen Politikerstandes. Ver¬
stärkt wurde dies noch durch den Umstand, daß sich die Eliten der preußischen und
bayerischen Verwaltung aus anderen Regionen rekrutierten und das Saargebiet als
Durchgangsstation auf der Karriereleiter galt. Obwohl diese Fremdbestimmung im
Kulturschatten Preußens und Bayerns, die oft den Vorwurf der Bevormundung
provozierte, zur Herausbildung eines eigenständigen regionalen Bewußtseins hätte
führen können, ist eine derartige Entwicklung vor 1920 nicht festzustellen.
Vielfache Erinnerungen an den französischen Annexionsdrang und das „Trauma von
1814“. die Abtretungs- bzw. Kompensationsgerüchte der 1860er Jahre und die
kurzzeitige Besetzung Saarbrückens als einziger deutscher Stadt zu Beginn des
deutsch-französischen Krieges schürten die Frankophobie in der Saarbevölkerung.
Nach Wegfallen der Bedrohung wurde diese kollektive Grenzlanderfahrung durch
eine ebenso verbreitete Heimatverbundenheit überlagert, die sich immer wieder aus
dem Mythos von Spichern nährte '. Sie wurde in den zahlreichen Vereinen und
Kriegerbünden gepflegt und erfaßte alle sozialen Schichten. Der zweifelsohne auch
in der Saarregion zu Beginn des Weltkrieges nachweisbare Nationalismus läßt sich
aber nicht monokausal durch diese Bedrohungsszenarien bzw. das Bedürfnis der
Saarländer nach Abgrenzung gegenüber Frankreich erklären; vielmehr kompensierte
er die Auflösungserscheinungen der bisherigen ständisch-bäuerlichen Sozialstruktur
und den Verlust traditioneller Bindungen an die dörfliche Solidargemeinschaft durch
die Eingliederung in den industriellen Arbeitsprozeß71 72.
Bei Ausbruch des Weltkrieges war die Saarregion weder eine geographische noch
eine politische oder kulturelle Einheit. Ihre Bevölkerung fühlte sich preußisch oder
bayerisch, vor allem aber deutsch. Wirtschaftlich war der Strukturwandel von der
land- und forstwirtschaftlich geprägten Region mit industriellen Kleinbetrieben zur
modernen Montanregion vollzogen, und die Saar zu einer der wichtigsten deutschen
Wirtschaftszonen herangewachsen. Eine ambivalente Sozialpolitik federte die damit
verbundenen Brüche ab und beugte so einer ausgeprägten Proletarisierung vor.
ifc
Die überraschende Niederlage im deutsch-französischen Krieg rief in Frankreich das
Trauma der Unterlegenheit gegenüber Deutschland hervor, welches durch das Dogma
einer intellektuellen und kulturellen Überlegenheit der „Grande Nation“ kompensiert
wurde. Das Bedürfnis nach Sicherheit vor dem als aggressiv und imperialistisch
wahrgenommenen wilhelminischen Kaiserreich prägte das Verhältnis zum östlichen
Nachbarn, wobei sich die französischen Militärs und mit ihnen Publizisten und
Politiker in erster Linie von der Verschiebung der deutsch-französischen Militär¬
71 Vgl BÖHM und FENSKE: Nachbarn - Erbfeinde - Freunde, S. 279-282.
72 Vgl. im Gegensatz zu Zenner: Parteien und Politik, S. 25 und VON WEGNER. S. 281: Hannig: Die
deutsche Saar 1935, S. 26 f. und S. 34 f.
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