Grenzverlauf zwischen Lothringen und den Königreichen Preußen bzw. Bayern fest,
der sich zwischen Frankreich und Deutschland bis auf den heutigen Tag behaupten
konnte.
Unbeschadet der Tatsache, daß die Diplomaten vor allem den militärstrategischen
und wirtschaftlichen Interessen Berlins Rechnung trugen, prägten bereits Jahre vor
dem Ersten Weltkrieg zwei Mythen die Interpretation der Grenzkorrektur: Zum einen
sei es dem Saarbrücker Kaufmann Heinrich Böcking zu verdanken, daß Joseph
Görres sich im ..Rheinischen Merkur“ Mitte 1814 in einer Artikelserie dem Problem
des Saarbeckengebietes annahm4* und zum anderen sei die Revision des Ersten
Pariser Friedens das Resultat des freien Willens der Saarbrücker Bürgerschaft. Diese
übergab dem nach Paris durchreisenden Fürsten Hardenberg eine Denkschrift, in
welcher sie bat, „die den Preußen durch Sitten, Sprache, Religion und Gesinnungen
so verwandten Saarbrücker“48 49 in Schutz zu nehmen. Somit trifft die von französischer
Seite erhobene Behauptung kaum zu. daß die Saarländer 1815 „Prussiens par con¬
trainte“50 geworden seien, allerdings kann ebensowenig von einer Preußenbegeiste¬
rung gesprochen werden. Abgesehen davon, daß das protestantische Bürgertum der
Handelsstadt Saarbrücken eher zur Hohenzollernmonarchie als zu den katholischen
Staaten Bayern und Frankreich tendierte, schien Preußen nach den Wirren der
Revolution der potenteste Sicherheits- und Stabilitätsfaktor zu sein. Fragen der
nationalen Zugehörigkeit, Frankophilie oder Prussophobie spielten in einer Grenz¬
region, die in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten nicht nur mehrfache Wechsel
der Obrigkeiten miterlebt, sondern die Grenze nie als statisch und abschließend
empfunden hatte, bei weitem keine so große Rolle wie die der individuellen Besser¬
stellung*1. Die Petition vom Juli 1815, die auf dem diplomatischen Parkett eher
bedeutungslos blieb, entwickelte allerdings in der ersten Nachkriegszeit des zwanzig¬
sten Jahrhunderts eine Eigendynamik: Zunächst war sie das Vorbild einer an den
amerikanischen Präsidenten Wilson gerichteten Resolution vom Dezember 1918.
Ferner sollte sie angesichts der französischen Dominanz im Saargebiet vor Re¬
signation bewahren und ermutigen, sich am historischen Beispiel der Saarbrücker
Bürgerschaft zu orientieren. Da die Petition von 1815 einschließlich ihrer langen
Unterschriftenliste vielfach als Faksimile nachgedruckt wurde, ehrte sie den Nach¬
kommen eines Unterzeichnenden und prädestinierte diesen zum Wortführer der
deutschen Sache52.
48 ln der Zwischenkriegszeit konstruierte die deutsche Propaganda Parallelen zwischen der Situation von
1814/15 und 1918, um sich selbst in die Tradition der Saarbrücker Bürger um Böcking zu stellen und
die eigene Tätigkeit moralisch zu legitimieren: Ebenso wie sich Görres als Anwalt des unterdrückten
Saarvolkes betätigt habe, nehme der BdS nun die Funktion des Sprachrohrs im Reich wahr: Vgl.
VOGEL: Oberbergrat Heinrich Böcking: Ders.: Geschäftsstelle „Saar-Verein“, S. 226.
44 Zitiert nach Schmitz, S. 353, Beilage 22.
50 Tardieu, S. 280.
51 Den Kategorien Wolfgang Haubrichs folgend bildete die Saarregion zu Frankreich zugleich eine
dezisionäre und eine Ausgleichsgrenze mit einem kulturellen Überlappungsraum.
52 Siehe hierzu beispielsweise Röchling, Anhang nach S. 150.
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