Vieles spricht dafür, daß die Stettiner Gruppe eher als Ausnahme denn als Regel
betrachtet werden muß. Auch wenn Vogels Ermahnungen mehr vom überzogenen
Erwartungshorizont der Zentrale als von den tatsächlichen Leistungen der lokalen
Vereinigungen offenbaren, stellte die regelmäßige und über die ausgebliebenen
finanziellen Subsidienzahlungen hinausgehende Kritik den Ortsvereinen kein gutes
Zeugnis aus1'’4. Während die Ortsgruppen Speerspitzen der Saar-Aufklärung sein
sollten, sah die propagandistische Praxis vielfach anders aus: In Versammlungen der
lokalen Vereine standen meist Banalitäten und unpolitische Unterhaltungselemente
anstelle der ernsten Auseinandersetzung mit der Saarfrage auf der Tagesordnung.
Gerade in den rheinisch-westfälischen Vereinigungen war einem großen Teil der
Mitglieder höhere Bildung versagt geblieben, so daß diese mit den organisatorischen
Anforderungen an die literarische und rednerische Propaganda schlichtweg über¬
fordert waren‘"k Außerdem fehlte diesen Arbeiterortsgruppen vielfach die Zeit, sich
derartigen Aufgaben zu widmen, weswegen sie bei öffentlichen Veranstaltungen in
aller Regel auf die Aufsätze im „Saar-Freund“, vorgefertigte Lichtbildervorträge der
Geschäftsstelle oder der Einfachheit wegen auf einen auswärtigen Redner zurück¬
griffen. Neben der oftmals mangelnden Befähigung der Redner erwiesen sich die
allgemeine Saalnot und Versammlungskosten als nicht abzuschätzende Schwierig¬
keiten. Die anfängliche Euphorie nach einer Gründung, die sich in den regelmäßigen
und ausführlichen Berichten über Versammlungen und Veranstaltungen im „Saar-
Freund" widerspiegelt, ebbte in den meisten Fällen wieder recht bald ab.
Gewöhnlich wiesen Monatsversammlungen eine Dreiteilung auf: Nach der Klärung
organisatorischer und vereinsinterner Angelegenheiten folgten vor dem unterhalten¬
den Ausklang meist Vorträge und Belehrungen. Wie ermüdend die permanente
Erörterung der Saarfrage für viele Ortsgruppen war, belegt das Repertoire der dar¬
gebotenen Themen: Sieht man von den saarspezifischen Vorträgen ab, wurden die
Mitglieder unter anderem in Knappschaftsangelegenheiten aufgeklärt, hörten sie
Erzählungen in saarländischer Mundart und ließen sich von Reiseberichten ebenso in
den Bann ziehen wie sie wissenschaftlichen und medizinischen Vorträgen folgten154 156.
Expandieren und die Saarfrage vor ein breiteres Publikum tragen konnten die Orts¬
gruppen jedoch nur, wenn sie den Schritt in die Öffentlichkeit wagten. Doch dürfte
auch hier der Idealfall - in Zusammenarbeit mit anderen vaterländischen Verbänden
und politischen Parteien mindestens einen öffentlicher Vortrag pro Jahr zu organisie¬
ren. der publizistisch aufbereitet anschließend der Lokalpresse zur Veröffentlichung
154 So beispielsweise Vogel auf der ßundestagung 1924 (Die Ortsgruppen ließen es bisweilen „an der
nötigen Arbeitsfreude fehlen“: SF 5 (1924) 9, S. 127) oder im Aufruf zur Bundestagung 1925: Vgl.
SF 6 (1925) 9. S. 133.
135 Vgl. hierzu nur die zahlreichen Rechtschreibfehler und den Stil im Schreiben des Vorsitzenden der
Ortsgruppe Scherlebeck, in welchem dieser der GS V die Auflösung des Vereins mitteilte (23.07.28),
in: BA-R 8014/587.
156 Vgl. beispielsweise den Vortrag vor der Dortmunder Ortsgruppe am 14.03.26 über „Ernährung und
Verdauung“, in: SF 7 (1926) 7, S. 115.
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