Sinne einer geographischen Wissenschaft von der eigenen Nation, sondern auch
als Bekenntnis eines nationalistischen Engagements der Wissenschaftler.92
Schließlich ist Wissenschaft genauso wenig wie die, die Wissen schaffen, frei von
ihren gesellschaftlichen Bedingungen. Peter Burke unterstrich: „Was Individuen
für Wahrheit oder Wissen halten, wird von ihrem sozialen Umfeld beeinflusst,
wenn nicht determiniert“.93 Für die Lebenswelt vieler Professoren im 19. Jahr¬
hundert war „das Eintreten für eine deutsche Nation und die Hinwendung zu
einem nationalen Denken“ elementar. Hedda Gramley hielt fest, dass es nicht
zuletzt die Professoren gewesen seien, die als Werte und Definitionen setzende
Bildungselite selber die Nation konstruktivistisch geformt hätten.94
Das Interesse der Nationalwissenschaften an der eigenen Nation spiegelt ebenso
das Interesse der Nation, besser gesagt: des Nationalstaates an den National¬
wissenschaften wider. Solche Prozesse banden Wissenschaftler stärker an den
sich formierenden Nationalstaat und begründeten akademische Traditionen, denen
sich zu entziehen immer schwieriger wurde. Insgesamt finden wir im Europa des
19. Jahrhunderts, in dieser „Achsenzeit“9' der bürgerlichen Gesellschaft zwei
parallele Säkularisierungs- und Sakralisierungsvorgänge: Die organisierte Nation,
der Staat, und die Wissenschaft lösten sich von religiösen Bindungen und kirch¬
lichen Zwängen und wurden selbst zu den Ersatzreligionen der Moderne, die sich
überdies gegenseitig nutzten. Der Nationalstaat finanzierte die nationale Wissen¬
schaft, die Wissenschaft dankte es mit vielfältigen Problemlösungen und Legiti¬
mationen. Wissenschaft wurde verstaatlicht und der Staat verwissenschaftlicht. In
der Überzeugung, dass Wissenschaft, die exakten Wissenschaften inbegriffen, nur
auf nationalem Boden gedeihen könne,96 und in der gleichzeitigen Leugnung, dass
die wissenschaftliche Arbeit nach den Interessen der Politik ausgerichtet sei,97
begann das 20. Jahrhundert.
92 Marie-Claire Robic, „Introduction“, Le Tableau de la géographie de la France de Paul Vidal
de la Blache: Dans le labyrinthe des formes, dir. id., Ministère de fEducation nationale,
Ministère de la Recherche, Comité des travaux historiques et scientifiques, Mémoire de la
section de géographie physique et humaine, 20 (Paris: CTHS, 2000), 7-17, hier 7.
93 Burke, Papier und Marktgeschrei, 10, cf. 19; cf. Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte:
Theorien, Praxis, Schlüsselwörter (Frankfurt, M.: Suhrkamp, 2001), 387-89; Max Weber, „Die
,Objektivität1 sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904)“, Gesammelte
Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Hg. Johannes Winckelmann, 7. Aufl. (Tübingen: Mohr,
1988), 146-214, hier 212-14.
94 Hedda Gramley, Propheten des deutschen Nationalismus: Theologen, Historiker und Natio¬
nalökonomen 1848-1880 (Frankfurt, M.: Campus, 2001), 22, cf. 391.
95 Giesen, Die Intellektuellen und die Nation: Eine deutsche Achsenzeit.
96 Max Planck, Ansprache am 1.7.1926; zit. nach Gabriele Metzler, „Nationalismus und Inter¬
nationalismus in der Physik des 20. Jahrhunderts: Das deutsche Beispiel“, Wissenschaft und
Nation in der europäischen Geschichte, Hg. Ralph Jessen, Jakob Vogel (Frankfurt, M.:
Campus, 2002), 285-309, hier 300.
97 Tadeusz Lewaszkiewicz, „Der polnische Westgedanke und die Sprachwissenschaft“, Deut¬
sche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und
Politik: Disziplinen im Vergleich, Hg. Jan M. Piskorski, in Verb, mit Jörg Hackmann, Rudolf
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