A. Der Aufbau der Ferngasversorgung im rheinisch-westfäli¬
schen Industriegebiet
1. Zu den Voraussetzungen der Ferngasversorgung
Das Projekt, die Kokereigasversorgung nicht nur auf die Kernregion
und die unmittelbare Umgebung des rheinisch-westfälischen Industrie¬
gebietes zu beschränken, sondern auf große Teile Deutschlands auszu¬
weiten, basierte auf Überlegungen des Ruhrbergbaus. Diesem ging es in
erster Linie darum, durch den Absatz von Kokereigas neue Einnahme¬
quellen zu erschließen und damit die einzelbetriebliche Rentabilität zu
erhöhen. Eine Ferngasversorgung, worunter diese Pläne firmierten,
implizierte jedoch darüber hinaus weit reichende energiepolitische Fol¬
gen. Mitte der 20er-Jahre befand sich der Ruhrbergbau in einem tief
greifenden Umstrukturierungsprozess, der unter dem Schlagwort "Ra¬
tionalisierung" zusammengefasst wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg
hatten sich nicht nur die energiewirtschaftlichen Rahmenbedingungen
grundlegend geändert: mit der Braunkohle, dem Erdöl und der Elektri¬
zität traten neue Energieträger auf oder erzielten ihren Durchbruch, die
die Absatzbedingungen der Steinkohle erschwerten. Infolge des Koh¬
lenmangels zum Ende und nach dem Ersten Weltkrieg gelangen zudem
in der Wärmetechnik zahlreiche Erfindungen und Verbesserungen, die
den spezifischen Kohlenverbrauch sowohl der Privatkonsumenten, als
auch im Maschinen-, Kessel- und Heizungsbau verringerten.1
Betriebsintern waren im Ruhrbergbau vor allem in den Nachkriegsjah¬
ren grundlegende Erneuerungs- und Modernisierungsmaßnahmen un¬
terblieben. Nicht zuletzt der "passive Widerstand" des Jahres 1923 hatte
den Ruhrzechen deutliche Absatzeinbußen gebracht: das Betriebjahr
1923 schloss mit einer Förderung von nur noch 41,8 Mio. Tonnen ab,
was dem Stand des Jahres 1897 entsprach.2 Angesichts der Nachfra¬
geeinbrüche legte der Ruhrbergbau eine große Anzahl von Bergwerken
still, konzentrierte den Abbau auf die rentabelsten Zechen und trieb an
den verbleibenden Standorten die Mechanisierung untertage voran. Im
Verlauf der Umstrukturierung verloren rund 100.000 Bergarbeiter ihren
Arbeitsplatz.
Neben der Verbesserung der Bergbautechnik zielten die Bestrebungen
des Ruhrbergbaus dahin, durch die Zentralisierung und Modernisierung
der Kokereianlagen die Koksausbeute zu erhöhen und die Wärmewirt-
1 Vgl. Wilhelms (1938), S. 19 f.
2 Vgl. Hartwig (1936), S. 273; Muthesius (1943), S. 163
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