Gegen diesen Ansatz kann die Kritik angebracht werden, daß hier die Reichweite
föderalistischer Traditionen in der deutschen Geschichte allgemein überschätzt werde
und daß insbesondere die Verankerung der Bundesländer in dieser Tradition allen¬
falls als sehr schwach anzusehen sei.1'4 Dieser Einwand ist in engem Zusammenhang
mit der sich ab Ende der 60er Jahre rasch entwickelnden Föderalismuskritik unter
dem Schlagwort der „Politikverflechtung“ zu verstehen,19" die über ihre Kritik an der
unzureichenden Rolle der Länder indirekt der Kritik an deren historisch-wissen¬
schaftlichen Untersuchung Nahrung gab.196 Denn wenn die Bundesländer schon keine
besondere historische Tradition besitzen und zudem über die normative Ebene der
Verfassungstexte hinaus in der Verfassungs- und Lebenswirklichkeit keine nennens¬
werte Rolle spielen, muß zwangsläufig ihre Regionalqualität bestritten werden.19
Bundeslandgeschichte sei dann, so der Gedankengang, ein Ansatz, der allenfalls „auf
die Chronologie verweist und zu Konzepten der Aneinanderreihung von politischer
Industrieregionen, S. 275-290. Zu anderen Bundesländern vgl. die bereits erwähnten Forschungsüberblicke
sowie besonders die methodisch interessanten Artikel von Hüser, Wahlen, und Schacht, Hessen.
194 An dieser Stelle mag der Hinweis auf die Debatte um die identitätsstiftende Rolle der föderalen
Verfassung der Bundesrepublik genügen, in deren Zusammenhang Arno Mohr prägnant feststellt: „Hier
wird die Stellung des Landtags in der Landespolitik unverhältnismäßig überschätzt. Außerdem wird nicht
beachtet, daß die Ubiquität des Parlamentarismus in der Bundesrepublik und darüber hinaus in weiten
Teilen Westeuropas es diesem per se verwehrt, eine auf einen typischen Raum bezogene identitätsbildende
Funktion auszuüben.“, Mohr, Landesgeschichtsschreibung, S. 247.
195 Sehr früh formulierte bereits Werner Thieme seinen Föderalismus-Pessimismus nicht nur sach¬
lich-rational, sondern auch in bezug auf Mentalitätsfragen: „Diese Frage [über die Zukunft des Föderalis¬
mus] kann nur beantwortet werden, wenn man weiß, woher der Föderalismus seine innere Kraft nimmt, um
weiterzubestehen. Dabei ist es offenbar, daß sich bei den heutigen Ländern eine eigene Staatsidee kaum
ausgebildet hat. Bayern mag insofern eine Ausnahme darstellen.“, Thieme, Föderalismus, S. 148. Grundle¬
gend zur Föderalismuskritik: Fritz W. Scharpf, Reissert u. Schnabel, Politikverflechtung, sowie Fritz W.
Scharpf, Die Politikverflechtungs-Falle. Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Ver¬
gleich, in: Politische Vierteljahresschrift 26 (1985), S. 323-356.
196 Den extremen Gegen-Standpunkt nimmt Josef Schmid, Die CDU. Organisationsstrukturen, Politiken
und Funktionsweisen einer Partei im Föderalismus, Opladen 1990, S. 22, ein, der die „Republik der
Landesfürsten“ zitiert. Den Bundesländern kommt nach seiner Ansicht sogar ein je eigenes „Regierungs¬
system“ zu, vgl. ebd., S. 32.
197 Insbesondere in bezug auf die „Bindestrich-Bundesländer“ wurde diese Sichtweise breit rezipiert. Zu
Nordrhein-Westfalen als prominentestem Beispiel hierfür seien genannt: Wolfram Köhler, Landesbewußt-
sein als Sehnsucht, in: Hüttenberger (Hg.), Vierzig Jahre, S. 171-185, hier: S. 171, konstatiert beispiels¬
weise eine Art „Staats-Minderwertigkeitskomplex“, der darin begründet sei, daß das Land keine Vorläufer
gehabt habe, ja bei leicht abweichenden Entscheidungen „in London“ möglicherweise gar nicht gegründet
worden wäre, Wolfram Köhler, Nordrhein-Westfalen - ein Land der Bundesrepublik Deutschland, in:
Boldt (Hg.), Nordrhein-Westfalen, S. 23-39. Mit der Feststellung: „Den Nordrheinwestfalen wird es so
schnell nicht geben“ raubte sodann Hansgeorg Molitor, Land und Staat. Der geschichtliche Raum Nord¬
rhein-Westfalen, in: Hüttenberger (Hg.), Vierzig Jahre, S. 13-30, hier: S. 28, sozusagen dem Land auch
noch seine Bürger, weil auch seine Suche nach historischen Vorläufern ergebnislos blieb. Völlig anders
dagegen Guido Thiemeyer, Kriegsende und Neubeginn in Europa: nationale und regionale Erfahrungen,
in: Neue Politische Literatur 44 (1999), S. 426-445, hier: S. 427, der bei den Deutschen ein „intensives
Bedürfnis nach historischer Legitimation und kultureller Identität“ ausmacht, das sich besonders auf die
Bundesländer bezieht.
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