Herausforderungen der in der Nachkriegszeit errichteten Währungs- und Zollunion
mit Frankreich unter diesen Umständen durch das europäische Statut eine befriedi¬
gende Lösung erfahren konnten."
Abgesehen von der völlig anders gearteten Konstellation auf internationaler Ebene
waren an der Entscheidungsfindung des Jahres 1955 auch alle politischen Kräfte im
Saarland prinzipiell gleichberechtigt beteiligt. Den im Heimatbund zusammenge¬
schlossenen „Nein-Sagem“ stand eine breite Front gesellschaftlicher und politischer
Kräfte gegenüber, die sich in der politischen Auseinandersetzung nachdrücklich und
mit nennenswertem Erfolg für das europäische Statut einsetzten. Immerhin konnten
die „Ja-Sager“ fast genau ein Drittel der Abstimmungsberechtigten von ihren Argu¬
menten überzeugen - und sie blieben auch nach der Abstimmung über Jahre hinweg
mit Parteien und Fraktionen in der saarländischen Politik präsent. Faktisch brachte
das Referendum von 1955 somit zwar das Ende des teilautonomen Saarstaates, die
Integration des demokratischen Gemeinwesens in die föderal strukturierte Bundesre¬
publik stellte aber eine besondere Herausforderung dar, erforderte sie doch die grund¬
legende Neudefmition von Landespolitik unter völlig veränderten Bedingungen. Von
der Integration des Saarlandes in die Bundesrepublik in Analogie zu den Jahren nach
der ersten Saarabstimmung als einer „Rückgliederung“ zu sprechen, wie dies teil¬
weise bis heute geschieht, erscheint daher als wenig angemessen.
Abzulehnen ist dieser Begriff vor allem auch deshalb, weil er von der Dynamik der
Entwicklung beider Partner bei der Integration des Saarlandes in die Bundesrepublik
ablenkt. Der oben erwähnte Konsens über das Jahr 1957 als Zäsur in der bundesdeut¬
schen Geschichte basiert im wesentlichen auf der Wiederentdeckung der 60er Jahre
als „zweite formative Phase der Bundesrepublik“.5 6 Die „intellektuelle Selbstanerken¬
nung der Bundesrepublik als westliche Demokratie [ist als] das Ergebnis eines sich in
den 60er Jahren wandelnden Gesellschafts-, Politik- und Institutionenverständnisses“
anzusehen.7 Charakteristisch für die 60er Jahre ist, daß in Themengebieten wie
Finanz- und Rechtspolitik, Bildung oder Raumordnung „Politik nicht nur reaktiv,
sondern aktiv und gestaltend“ die inneren Strukturen der bundesdeutschen Verhält¬
nisse zu bearbeiten begann. Nicht nur das Saarland war also nach dem Referendum
grundlegenden Veränderungen seiner gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftli¬
chen Strukturen ausgesetzt, die 60er Jahre stellten, „eingeklemmt zwischen Adenau¬
er-Zeit und 68em“, auch in der Bundesrepublik eine „Zeit vergessener Anfänge“ dar.8
5 Vgl. die Zusammenfassung der wichtigsten Argumentationsstränge bei Armin Heinen, Marianne und
Michels illegitimes Kind. Das Saarland 1945-1955 in der Karikatur, in: Hudemann, Jellonnek u. Rauls
(Hgg.), Grenz-Fall, S. 45-62.
6 Hermann Rudolph, Mehr Stagnation als Revolte. Zur politischen Kultur der sechziger Jahre, in: Martin
Broszat (Hg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte,
Oldenbourg 1990, S. 141-151, hier: S. 142.
7 Klaus Schönhoven, Aufbruch in die sozialliberale Ära. Zur Bedeutung der 60er Jahre in der Geschichte
der Bundesrepublik, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 123-145, hier: S. 125.
* Hermann Rudolph, Eine Zeit vergessener Anfänge: Die sechziger Jahre, in: Werner Weidenfeld u.
Wilhelm Bleek (Hgg.), Politische Kultur und Deutsche Frage. Materialien zum Staats- und Nationalbe¬
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