3. Von der 'Gnade' zum 'Recht': Zur Rationalisierung der politischen Kultur im
ausgehenden Ancien Régime
Erst seit neuestem widmet sich die frühneuzeitliche Protestforschung dem Themen¬
bereich der "Werte und Normen einer bäuerlich-bürgerlichen Welt" und nutzt ihn zur
Erforschung der politischen Kultur der altständischen Gesellschaft1. Aber hier im
speziellen bleibt sie wie im allgemeinen, bei ihrem eigentlichen Thema, den Unruhen
und Protesten, einseitig an der Untertanen-Perspektive orientiert und bezieht die
Herrschaft, die diese gesellschaftlichen Normen und Werte maßgeblich prägte, nicht
in ihre Untersuchung mit ein. So hat Peter Blickle beispielsweise den 'Gemeinen
Nutzen' als eine ureigene Ideologie des Kommunalismus ausgemacht, die angeblich
erst später, im 16.Jahrhundert, von der Herrschaft usurpiert worden sei. Demgegen¬
über hat Volker Press völlig zu Recht erhebliche Zweifel angemeldet, "daß diese von
Aristoteles kommende und von Thomas von Aquin wieder betonte, von den Humani¬
sten aufgegriffene Bestimmung des Staates so ganz von den Herrschenden gemieden
worden sein soll"2. Ja, man wird noch weiter gehen können: Der Gemeinnutz war
"der zentrale programmatische Begriff des spätmittelalterlichen und frühneuzeitli¬
chen Staatsdenkens", den die Herrschaft zur Legitimierung ihrer eigenen Politik
benutzte, wenn nicht gar kreierte3. Dies gilt auch für viele andere, ich meine gar für
die meisten Werte und Normen der vormodemen Welt. Ob das nun das vorgeblich
bäuerlich-bürgerliche 'Verantwortungsbewußtsein vor der Nachwelt' ist oder die
sogenannte ’Notdurft', ja selbst der permanente Verweis der Untertanen auf ihren
'Ruin' als Hauptlegitimationsgrund ihrer Beschwerden, immer ist die Herrschaft ma߬
geblich beteiligt gewesen am Zustandekommen dieser später dann gesellschaftlichen
Wertvorstellungen; dies läßt sich damit belegen, daß die meisten Normen und Werte
schon recht früh in den herrschaftlichen Verordnungen auftauchen und später dann
von den Untertanen übernommen bzw. 'kulturell' angeeignet wurden4. Die Protestfor¬
schung schreibt a priori all diese Werte vornehmlich den Untertanen zu und verbaut
sich damit jede tiefere Einsicht in den komplexen Vorgang der Entstehung, Wechsel¬
wirkung und Umdeutung von Normen und Werten in der altständischen Gesellschaft.
Außerdem greift die Konzentrierung auf die Untertanen-Seite zu kurz, um dem
1 Vgl. zum Überblick Blickle, Unruhen, S. 107-109 (zit. S. 107); die Werte und Normen jetzt zum ersten
Mal auf breiter Basis unter dem Thema der politischen Kultur behandelnd: Gabel, Widerstand, S.337-
412; s.a. ders., Ländliche Gesellschaft, S.241-259; erstmals das Konzept der politischen Kultur für die
ffühneuzeitliche Protestforschung aufgreifend: Gabel/Schulze, Resistance, S.l 19-146.
2 Vgl. Press, Kommunalismus, S. 111.
3 Vgl. Schulze, Gemeinnutz, zit. S.ll.
4 ich verzichte hier auf den Einzel-Nachweis; aber der Eindruck meines Aktenstudiums hat ergeben,
daß alle Werte, die in den Untertanen-Petitionen auftauchen, lange vorher schon von der Herrschaft
in ihren Verordnungen, Resolutionen, Dekreten etc. vorgeprägt wurden - auch hier fand ein Intertak¬
tionsprozeß statt.
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