Am 11.Februar 1764 war es endlich soweit: Zwei Jahre nach Überreichung der
letzten Supplik und über zwanzig Jahre nach dem Herrschaftswechsel, bei dem
eigentlich die Privilegienbestätigung hätte stattfmden sollen, erließ Wilhelm Heinrich
eine sogenannte 'Punktation' über die Privilegien der beiden Saarstädte176. Allein
schon der Titel -'Punktation'- war Programm: Die Privilegien wurden nämlich nicht
mehr wie früher in einem 'General-Dekret' ganz kursorisch bestätigt, sondern alle
Rechte und Pflichten der Bürger sowie die herrschaftlichen Vorbehalte, die ja eben¬
falls im Freiheitsbrief festgeschrieben waren, wurden Punkt für Punkt aufgefuhrt und
je nach Gutdünken des Fürsten beschieden. Vor allem aber wurden gleich zu Anfang
der Urkunde nicht etwa die städtischen Privilegien genannt, sondern ausschließlich
die herrschaftlichen Gerechtsamen und die Verpflichtungen der Bürger, wie sie sich
aus den einzelnen Artikeln des Freiheitsbriefs ergaben und gegebenenfalls den neuen
Policey- und andern Landes-Verordnungen anzupassen waren177. Der reformabsolu-
tistische Polizeistaat schuf eine völlig neue Lesart der städtischen Freiheitsurkunde
von 1322: Nicht mehr die Privilegien der beiden Saarstädte standen im Zentrum,
sondern die Rechte und Vorbehalte der Herrschaft. Damit wurde die dem Freiheits¬
brief zugrundeliegende Absicht geradezu auf den Kopf gestellt. Unter den Prämissen
einer gemeinwohlorientierten Politik der guten Polizei wurde die mittelalterliche
Freiheitsurkunde der beiden Saarstädte zugunsten der Herrschaft zweckentfremdet!
Was der Herrschaft am wichtigsten war, nannte sie gleich zu Beginn: Sie behielt sich
weiterhin die Bestellung herrschaftlicher Diener, wie etwa des städtischen Schult¬
heißen, vor und war darauf bedacht, daß die städtischen Vorsteher und Gerichtsleute
ihr in guten Treuen zugethan sein sollten178; auch die Kriminalgerichtsbarkeit behielt
sie sich, wie bereits im Freiheitsbrief festgeschrieben, nochmals ausdrücklich vor179;
sie erinnerte die Städte an ihre Pflicht, die Wachen der Stadt selbst zu halten, und
176 Vgl. dazu den Vermerk des Saarbrücker Regierungsrats Lautz v. 14.Februar 1764, der das Datum
nennt: LA SB 22/2851, fol.107; die Urkunde selbst liegt nur als undatierte Abschrift vor: ebd.,
fol.l 13-116; sie wird später stets ’Punktation' genannt.
177 Vgl. ebd., fol.l 14.
178 Vgl. die Punktation v. 11.Februar 1764: LA SB 22/2851, fol.l 14r.; vgl. dazu die entsprechenden Art.
bei Köllner, Städte I, S.28ff.; die Artikel-Nummerierung ist nicht immer identisch; der etwa in der
Punktation genannte Art.27 der Bestellung herrsch. Diener entspricht bei Köllner dem Art.28; der
1 .Art. betrifft die Treue der städtischen Diener gegenüber der Herrschaft.
179 Vgl, die Punktation v. 1 l.Februar 1764: LA SB 22/2851, fol.l 14r.; vgl. auch den entsprechenden
Art.l 1 des Freiheitsbriefs bei Köllner, Städte I, S.30. Ich erwähne dies auch deswegen, um mit der
'Legende' in der landesgeschichtlichen Forschung aufzuräumen, daß im Jahre 1762 hinsichtlich der
justiziellen Funktion des Stadtgerichts eine Zäsur eintrat, indem "nicht nur die gesamte freiwillige
Gerichtsbarkeit, sondern auch die Kriminalgerichtsbarkeit den Städten genommen (wurde)", so
Ennen, Organisation, S.102; s.a. Jung, Ackerbau, S.136L; van Ham (Gerichtsbarkeit, S.141) spricht
hier in offensichtlicher Anlehnung an Ennen - ohne jedoch sie, sondern ihre Quelle, das Kameralgut-
achten v.Krebs v.1762, zu nennen - sogar von der "Entziehung der ganzen Halsgerichtsbarkeit". Die
Kriminial- bzw. Halsgerichtsbarkeit hatten die beiden Saarstädte allerdings gemäß des Freiheitsbrief
nie besessen.
391