zeitigkeit des Ungleichzeitigen", die Reinhart Koselleck als die "Grunderfahrung
aller Geschichte" im Übergang bezeichnet hat247, Altes und Neues geht noch zu¬
sammen und läßt so ein Spannungsverhältnis entstehen, an dem der aufgeklärte
Reformabsolutismus letztlich scheitern sollte. Fürst Ludwig änderte selbst unter den
völlig veränderten Handlungsbedingungen der frühen Französischen Revolution
nichts mehr an seiner Haltung: Das Generaldekret vom 20.Januar 1793, das die
Abschaffung der Leibeigenschaft (eine Konzession an die aufrührerische Unterta¬
nenschaft, die nichts mit aufgeklärter Reformtätigkeit zu tun hatte) enthielt, leitete er
ebenfalls mit der Gottesgnadenformel ein248. Im Widerspruch zwischen rationaler
Reformpolitik und traditionaler Herrschaftslegitimierung lag die Grenze, die dem
aufgeklärten Reformabsolutismus in Nassau-Saarbrücken gesetzt war. Um den Kreis
zu schließen und wieder an Max Weber anzuknüpfen, so läßt sich die Ambivalenz
der Regierung des letzten Saarbrücker Fürsten noch am besten als Übergangserschei¬
nung zwischen traditionaler und rationaler Herrschaft, d.h. 'zwischen Gnade und
Recht', verstehen: Fürst Ludwig verhalf dem neuen, 'zweckrational' orientierten
Recht zum Durchbruch und hielt zugleich an der willkürlichen Gnade als der 'tradi-
tionalen' Legitimationsgrundlage von Herrschaft fest249. Der letzte Saarbrücker Fürst
führte damit das Hauptwerk des Reformabsolutismus in Nassau-Saarbrücken, näm¬
lich: die Verrechtlichungspolitik, die mit der nassau-usingischen Herrschaftsüber¬
nahme eingeleitet worden war, zu einem erfolgreichen Ende, ohne an der gott¬
gegebenen Rechtfertigung seines Herrscheramtes etwas zu verändern. Er stellte seine
Herrschaft - vor allem durch die CPO - auf eine neue, zweckrationale Grundlage und
behielt gleichzeitig die traditionale Legitimation seines Herrschaftsanspruchs bei -
darin lag die Ambivalenz, ja das Grunddilemma seiner Politik, die allein schon
deswegen zum Scheitern verurteilt war250. Dieser Grundwiderspruch des aufgeklärten
Reformabsolutismus wurde allerdings erst im letzten Drittel des 18.Jahrhunderts zu
einem existentiellen Problem für die Herrschaft. Deswegen haben wir auch das - die
aufgeklärte Reformpolitik natürlich generell kennzeichnende - Gegensatzpaar 'zwi¬
schen Gnade und Recht' für die Regierungszeit des letzten Saarbrücker Fürsten
247 Vgl. Koselleck, Studien, S.281f.
248 Vgl. das Generaldekret vom 20.Januar 1793: LA SB 22/4429, S. 195-211; hier in dieser Überlieferung
ist die Gottesgnadenformel im nachhinein gestrichen und durch 'Verordnung auf Beschwerden der
Untertanen’ ersetzt worden; da der gleiche Titel in Sittels Sammlung erscheint, ist anzunehmen, daß
Sittel selbst in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts die Streichung vorgenommen hat (Sammlung,
S.135). Die Verbindung von Aufhebung der Leibeigenschaft und Festhalten am Gottesgnadentum war
nichts Außergewöhnliches, so hob beispielsweise auch Karl Friedrich von Baden 1783 die Leibeigen¬
schaft auf und pochte weiterhin auf das Gottesgnadentum, vgl. Birtsch, Idealtyp, bes. S.38f., hier
allerdings als "Akt aufgeklärter Reformtätigkeit".
249 Vgl. hierzu neben der Weberschen Typenlehre auch die von Weber entwickelten 'Bestimmungs¬
gründe' sozialen Handelns, die zwischen 'zweckrationalen' und 'traditionalen' Orientierungen oszillie¬
ren: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S.12ff.
250 Vgl. allgem. zu diesem Grundwiderspruch des aufgeklärten Reformabsolutismus vor allem Aretin,
Einleitung, S.l 1-51.
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