immer auch eine disziplinierende Politik der 'guten Polizey', die unter der Vorgabe
eines aufklärerischen Erziehungsprogramms in sämtliche Lebensbereiche der Unter¬
tanen einzugreifen versuchte5. Der aufgeklärte Herrscher benutzte die Aufklärung zur
Durchsetzung seiner absolutistischen Politik, ja sie kam ihm eigentlich sogar auf¬
grund ihres Universalanspruchs zupaß. So trieb der 'Prozeß der Sozialdisziplinie-
rung', den Gerhard Oestreich als den "Fundamentalvorgang" der inneren Staats-
bildung im Zeitalter des Absolutismus bezeichnete, im 18.Jahrhundert, also in der
Zeit der Aufklärung, paradoxerweise seinem Höhepunkt entgegen6. Das war auch in
Nassau-Saarbrücken der Fall: Auch hier brachte das 18.Jahrhundert "den Eingriff des
Staates in das private Leben des einzelnen in einem bisher nicht gekannten Maße",
wie Hans-Walter Herrmann mit zahlreichen Beispielen belegen kann7. Zugleich
jedoch entstand nicht zuletzt durch die Vielzahl von herrschaftlichen Reformen im
Zeichen der Aufklärung ein politisches Klima, das auf mehr Emanzipation, Partizi¬
pation und Mitsprache der gesellschaftlichen Kräfte drängte. Wenn auch die deutsche
Aufklärung längst nicht so radikal war wie die französische oder englische, so läßt
sich doch mit Rudolf Vierhaus festhalten: "Auch in Deutschland ist bereits vor 1789
öffentlich über die Anerkennung von Menschenrechten, über Freiheit und Gleichheit
als regulative Prinzipien, über die Legitimierung von Herrschaft und die Zustim¬
mungsfähigkeit von Gesetzen diskutiert, Kritik an religiöser Intoleranz und an
bäuerlicher Abhängigkeit geübt und (sind) politische Reformen gefordert worden"8.
In diesem aufgeklärten Klima konnten die altständischen Konsensvorstellungen der
Untertanen, die - wie wir gesehen haben - bei aller Disziplinierungspolitik nie vol¬
lends zum Erlahmen gekommen waren, nicht nur weitergedeihen, sondern sogar
noch in den Kontext der neuen Zeit gestellt und unter Umständen gegen die Herr¬
schaft selbst gewendet werden. Außerdem konnte keine Herrschaft - auch keine noch
so absolutistsche - ganz ohne Zustimmung der Untertanen regieren, so daß auch von
daher die Konsensvorstellungen der Untertanen wachgehalten wurden. In diesem
Spannungsverhältnis 'zwischen Konsens und Disziplinierung' lag meines Erachtens
eines der entscheidenden Dilemmata des aufgeklärten Reformabsolutismus. Er hat
der absolutistischen Disziplinierungspolitik zum Durchbruch verholfen und zugleich
ein Klima geschaffen, das diese Politik obsolet erscheinen ließ, weil sie sozusagen
vor dem Forum der Vernunft an ihre altständische Konsenspflichtigkeit erinnert
wurde9. Unter dem Banner der Aufklärung war es eigentlich gar nicht möglich, noch
5 Zur Politik der 'guten Polizey' vgl. nochmals Maier, Genesis, S.18 u.35; Willoweit, Strukturen, S.9-27.
6 Vgl. zu diesem Gedanken Weis, Aufklärung, S.22f., zum Prozeß der Sozialdisziplimerung vgl.
Oestreich, Strukturprobleme, S. 179-197 (zit.S. 187); zum Sozialdisziplinierungs-Konzept Oestreichs
vgl. Schulze, Sozialdisziplinierung, S.265-302.
7 Vgl. Herrmann, Kleinstaat, S.303f. (zit. S.303); s. dazu auch Ruppersberg, Grafschaft 11, S.275-277.
8 Vierhaus, Deutsche Urteile, S.6; vgl. dazu auch Fehrenbach, Ancien Regime, S.57.
9 Vgl. dazu auch die neueste Studie von Henshall über den Mythos des Absolutismus, die vielleicht
etwas zu apodiktisch sämtliche 'absolutistische' Tendenzen des sog. Absolutismus leugnet und sehr
stark die altständische Konsensgebundenheit betont, die dem Absolutismus Schranken und Fesseln
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