EINLEITUNG: THEMA - FORSCHUNG - FRAGESTELLUNG -
QUELLENLAGE
Seit dem Bauernkriegs-Gedenkjahr von 1975 stellen in der Bundesrepublik Deutsch¬
land frühneuzeitliche Unruhen und Proteste einen wichtigen Bestandteil sozial-
geschichtlicher Forschung dar1. In bewußter Abgrenzung zur älteren Macht- und
Politikgeschichte, wie sie auch die Nachkriegszeit noch dominierte2, wurden die 'Ge¬
sellschaft' und ihre 'Bewegungen' zunehmend ins Blickfeld des historischen Interes¬
ses gerückt. Der 'Gemeine Mann' bzw. der 'deutsche Untertan' trat an die Stelle des
Fürsten und seiner Machtpolitik und wurde zum bevorzugten, ja z.T. sogar zum aus¬
schließlichen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung3. Unruhen und Proteste
erschienen so als relativ autonome Untertanen-Phänomene, die weitgehend unab¬
hängig von Herrschaft und ihrer Politik behandelt wurden4. In dieser ideologischen
Blickverengung, die ein Produkt des gesellschaftlichen Umbruchs der 70er Jahre
darstellt, ist die frühneuzeitliche Protestforschung bis heute im großen und ganzen
gefangen geblieben5. Immer noch richtet sich der Blick vornehmlich auf die
Untertanen-Seite: Anlässe und Ursachen, Motive und Ziele, Legitimationsmuster und
Organisationsformen, Träger- und Führerschichten - das sind und waren die wichtig¬
sten Kriterien, anhand derer Unruhen untersucht und als Untertanenbewegungen
beurteilt wurden6. Mittlerweile sind einige Kategorien mehr hinzugekommen:
'Gemeinnutz', 'Hausnotdurff, 'Freiheit', 'Verantwortung vor der Nachwelt' und nicht
zuletzt 'Öffentlichkeit' werden im Zuge der auch von der Protestforschung entdeckten
'Kulturgeschichte' als "Werte und Normen einer bäuerlich-bürgerlichen Welt"
hinsichtlich ihres politisch-sozialen Wandels untersucht7. Aber auch diese neuen
1 Vgl. den Forschungsüberblick von Giesselmann, Protest, S.50-77; s.a. die neuesten Forschungs¬
berichte von Blickle, Unruhen, S.78-109; ders., Bauemunruhen, S.593-624, Weber, Rottweil, S.l I -47;
Würgler, Unruhen, S.23-29; Gabel, Widerstand, S.l4-18. Hier soll nun nicht noch ein Forschungs¬
bericht gegeben werden, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit der frühneuzeitlichen
Protestforschung unter Darlegung des eigenen Konzepts erfolgen.
2 Vgl. dazu Schulze, Geschichtswissenschaft.
7 Die konzeptionelle Anleitung bei Blickle, Deutsche Untertanen.
4 Vgl. dazu vor allem die Beiträge in Blickle u.a. (Hg.), Aufruhr sowie die Arbeiten v. Troßbach im
Li tertaturverzei chn i s.
5 Vgl. die neuesten Arbeiten von Weber, Rottweil, Würgler, Unruhen und Gabel, Widerstand, die
weiterhin den Protest als ein reines Untertanenphänomen behandeln.
6 Zu den immer noch aktuellen Kategorien der Untersuchung frühneuzeitlicher Proteste vgl. zu¬
sammenfassend Blickle, Unruhen, S.51ff; zum ersten Mal empirisch eingelöst wurde das entwickelte
Frageraster 1980 in: Ders. u.a. (Hg ), Aufruhr.
7 Vgl. zusammenfassend dazu Blickle, Unruhen, S.104-109 (zit. S. 107); zu den Kategorien im ein¬
zelnen: Blickle, Hausnotdurft; dies,, Nahrung; Bierbrauer, Freiheit; Schulze, Gemeinnutz; zur
'Verantwortung vorder Nachwelt': Gabel, Ländliche Gesellschaft, bes. S.257L; sämtliche Kategorien
an einem Beispiel dargestellt und sehr gut in den gesamten Forschungskontext eingeordnet hat Gabel
in seiner Dissertation, die sich mit der 'politischen Kultur' im rhein-maasländischen Gebiet beschäf¬
tigt: Gabel, Widerstand, S.337-412.
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