satz. Die Kasse würde uns nur 80% des Kassentarifs zurückerstatten."214 Die Pariser
Zentrale und der damalige kommunistische Arbeitsminister Ambroise Croizat lehnten
1946 aber jeden Partikularismus ab.215
Das Hohe Kommissariat verzichtete mit dem Festhalten an der Kopfpauschale auf eine
Assimilierung und gestand dem Saarland in dieser Frage einen sozialpolitischen
Partikularismus zu. Das Risiko, deshalb Gegenwind aus Paris zu bekommen, war
gering, weil die erfolgreiche Gestaltung der Wirtschaftsunion nicht gefährdet wurde.
Ähnlich der Entwicklung in den elsässischen und lothringischen Départements hätte
auch im Saarland die Frage der ärztlichen Vergütung zu einem Politikum werden
können. Dies dürfte gerade den französischen Entscheidungsträgem in der LVA
bewußt gewesen sein, denn der Präsident des Technischen Ausschusses Alphonse
Rieth war gebürtiger Lothringer und der Vizepräsident Dr. Robert Jung kam aus dem
elsässischen Strasbourg und leitete dort, wie schon erwähnt, die regionale Kasse der
Sécurité Sociale.
Auch die Erfahrungen mit dem französischen Honorierungssystem sprachen gegen
seine Einführung im Saarland. Die relativ starke politische und gesellschaftliche
Stellung der Ärzte, wenn es um die Regelung ihrer Interessen ging, zeigte sich in
Frankreich erneut Anfang der fünfziger Jahre. So scheiterte die seit 1945 gebildete
nationale Tarifkommission in der Praxis.216 Die Vertragsparteien konnten sich über die
ärztlichen Honorare nicht mehr einigen. Infolge dieser Entwicklung setzten die Dé¬
partements Zwangstarife fest, die von den Ärzten jedoch mißachtet wurden. Dies führte
dazu, daß die Patienten zwar theoretisch Anspruch auf eine Kostenerstattung von 80
Prozent der festgesetzten Tarife hatten, die ärztliche Honorierung aber in der Praxis
dieselben überstieg. Der real von den Versicherten aufzubringende Kostenanteil betrug
damit nicht mehr 20 Prozent, sondern z.B. in Paris durchschnittlich 65 Prozent. Be¬
sonders teuer wurde der Besuch bei Spezialisten, da bei ihnen die Divergenz zwischen
vorgesehener und tatsächlicher Kostenbeteiligung noch größer war und es hier in der
Regel auch um höhere Honorarbeträge ging. Zur Veranschaulichung sei auf die Sécuri¬
té Sociale von Chartres verwiesen, die in einem Rechnungsjahr 75 Dentisten für
Aufwendungen an Patienten 14.862.421 FRS erstattete, während sich aber die Forde¬
rungen der Dentisten an die Mitglieder der Sécurité Sociale auf 43.334.849 FRS
beliefen. Sozial Schwache litten unter solchen Verhältnissen besonders, für sie konnte
die Behandlung durch einen Spezialisten zum unerschwinglichen Luxus werden. Das
70 Jahre Sécurité Sociale, S.73. Die Antwort der C.G.T. spiegelt die Polemik wider:” Von der ganzen
demagogischen Schaumschlägerei der Christlichen bleibt somit nur ein übler Gestank übrig (...)”, in: Ebd.,
S.73
215 Ebd., S.38.
*16 Durch diese Verträge garantierten die Kassen ihren Versicherten die Übernahme eines mit den Ärzten
ausgehandelten Betrages für bestimmte Leistungen,"tarif de responsabilité", alles, was darüber hinausging,
mußten die Patienten bezahlen, siehe: 70 Jahre Sécurité Sociale, S.44.
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