Der Widerstand der Ärzteschaft gegen die Kopfpauschale war keine saarländische
Sonderentwicklung, sondern entsprach den Verhältnissen in den deutschen Ländern.
Die Lobby von Ärzten und Zahnärzten forderte hier zwar nicht die Übernahme des
französischen Honorarsystems, aber eine stärkere Betonung des Leistungsprinzips,
In Baden sahen sich die Kassenärzte zu "Trinkgeldempfängern" degradiert, und die
Zahnärzte in Rheinland-Pfalz erklärten der gesetzlichen Krankenkasse den vertrags¬
losen Zustand. Sie starteten in einer Zeit, in der Papier noch Mangelware war, eine
Flugblattaktion und verweigerten die Behandlung gegen Krankenschein. August
Wolters (CDU), Leiter der AOK Trier, verurteilte diese Maßnahme, sie hätte mit einer
anständigen Kampfweise nichts mehr zu tun.209 Die LVA für das Saarland stand wieder
einmal mit den Kollegen des Verbandes der badischen Ortskrankenkassen in Lahr in
enger Verbindung und informierte sich bei ihnen über die Entwicklung in Rhein¬
land-Pfalz. Inzwischen hatte man sich dort auf eine Erhöhung der bisherigen Vergü¬
tung um 25 Prozent geeinigt.210
Nachdem die saarländischen Ärzte ab 31. März und die Zahnärzte ab 31. Dezember
1948 die bisherige Honorierung nicht mehr akzeptierten bzw. eine Vertrags Verlänge¬
rung abgelehnt hatten, war damit ein de facto vertragsloser Zustand eingetreten. Als die
Verhandlungen keine Einigung brachten, reagierte das Ministerium Kirn ausgespro¬
chen mutig und kompromißlos mit einem Gesetzentwurf, wonach dem Minister für
Arbeit und Wohlfahrt das Recht zugestanden wurde, abgelaufene Verträge mit den
Sozialversicherungsträgern weiterhin für verbindlich zu erklären. Von Seiten des
Ärztesyndikates wurde Zeter und Mordio geschrien. Die Ärztevertreter waren nicht
mehr bereit, mit dem Minister zu sprechen, man wandte sich gleich an den Ministerprä¬
sidenten und verglich Kirns Entscheidung mit dunklen Kapiteln deutscher Geschichte:
"Es ist höchst bedenklich (...) in einem demokratischen Staatswesen ein Ermächti¬
gungsgesetz zu erlassen (...) wir wollen nicht vergessen, daß am Anfang der national¬
sozialistischen Diktatur das Ermächtigungsgesetz gestanden hat".211
209 Ebd., AOK Trier/August Wolters an die Herren Verstands- und Ausschußmitglieder vom 2.4.49. Zur
Rolle von August Wolters bei der Vereinheitlichung der Krankenversicherung im Regierungsbezirk Trier,
siehe Hudemann, Sozialpolitik, S.227, 321-323. Biogaphische Information zu August Wolters bei:
Ebd., S.238. August Wolters war seit der Weimarer Republik christlicher Gewerkschaftler und Mitarbeiter
des Deutschen Handlungsgehilfen verbandes, wurde 1945 Leiter des Sozialdezemates im
Regierungspräsidium Trier und bis 1958 Geschäftsführer der örtlichen AOK. Innerhalb der
rheinland-pfälzischen CDU war er einer der engagiertesten und fortschrittlichsten Sprecher des
Arbeitnehmerflügels, Vorsitzender des Sozialausschusses, 1948 wurde er Landtagspräsident und
Vorsitzender des sozialpolitischen Ausschusses im Landtag, von 1959 bis 1971 Innen- und von 1959 bis
1967 zusätzlich auch Sozialminister in Rheinland-Pfalz.
210
LA SB, MifAS, Bü.ll, Schriftwechsel zwischen LVA Saarland und dem Verband der badischen
Ortskrankenkassen Lahr vom 28.2. und 23.4.49.
211 Ebd., Stk/KR/MAW/1950/T-l, Ärztesyndikat an Ministerpräsident Hoffmann vom 23.12.49. Vgl. LTS
DS 11/350, "Entwurf eines Gesetzes über Änderungen in der Kranken- und Unfallversicherung".
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