Full text: Sozialer Besitzstand und gescheiterte Sozialpartnerschaft

Worin lagen die Unterschiede zwischen beiden Systemen, was versprachen sich die 
Ärzte vom französischen System? 
Seit 1930 galt in Deutschland für Ärzte und seit Juli 1932 auch für Zahnärzte die 
sogenannte Kopfpauschale. Ihre Einführung war im Kontext der defizitären Situation 
der gesetzlichen Krankenversicherung als Sparmaßnahme zu Lasten der Ärzteschaft 
gedacht gewesen. Sie schuf aber auch durch die Kassenärztliche Vereinigung eine 
anerkannte Selbstverwaltung der Kassenärzte.193 Die Kopfpauschale errechnete sich aus 
der Division des Gesamtbetrages der von der Kasse für die ärztliche Behandlung 
aufgewandten Kosten durch die Zahl ihrer Versicherten, sie entsprach somit dem 
Durchschnittsbetrag der auf den einzelnen Versicherten berechneten Ausgaben. Von 
jedem im Laufe eines Vierteljahres behandelten Patienten erhielt der Kassenarzt einen 
Krankenschein. Er gab Anspruch auf einen Betrag, der ohne Rücksicht auf die Zahl der 
Besuche oder Konsultationen und die Bedeutung der geleisteten ärztlichen Hilfe 
festgelegt wurde.194 Das bedeutete eine Zurückstellung des Leistungsprinzips, denn 
durch die Kopfpauschale wurde weder der Anzahl noch dem Aufwand der jeweiligen 
Untersuchungen Rechnung getragen. Das Prinzip der Kopfpauschale veranschaulicht 
folgendes Beispiel. Bei jedem Patienten, dem ein Zahnarzt im Quartal nur einen Zahn 
zog oder nur eine Füllung ohne Entfernung des Zahnnervs anbrachte, wurde der 
Durchschnittswert nicht erreicht, so daß einem anderen Patienten mit schlechterer 
Mundhygiene mehr Leistungen zuteil werden konnten, die in ihrer Gesamtheit über 
dem Durchschnittswert lagen.195 Die Kopfpauschale bedeutete eine Kontingentierung 
ärztlicher Leistung, die sich für den jeweiligen Arzt dann besonders negativ auswirkte, 
wenn die von ihm betreuten Kassenpatienten eine extrem ungünstige Struktur aufwie¬ 
sen und in überproportional hohem Maße besonders aufwendige ärztliche Leistungen 
verlangten. 
Ganz im Gegensatz dazu stand das flexible französische Honorierungssystem, das 
durch eine Verordnung vom 19. Oktober 1945 in Frankreich eingeführt worden war. 
In jedem Département wurde zwischen den Ärztesyndikaten und der regionalen Kasse 
der Sécurité Sociale ein Vertrag auf Basis einer nationalen Nomenklatur abgeschlossen. 
Die Honorierung erfolgte nach Einzelleistung. Das Leistungsprinzip fand in der Hono¬ 
rarordnung Berücksichtigung, weil für jede ärztliche Behandlung ein nach Schwierig¬ 
keit, Umfang und Wert festgelegter Koeffizient mit einem bestimmten Frankenbetrag 
mulüpliziert wurde. Paragraph 13 der oben genannten Verordnung ermöglichte es den 
193 Zu den Einzelheiten: Florian Tennstedt, Der Ausbau der Sozialversicherung in Deutschland 1890- 
1945, in: Hans Pohl (Hrsg.), Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter 
bis zur Gegenwart, Stuttgart 1991, S.233. 
194 
Vergleich des westdeutschen und französischen Sozialversichenmgssystems, in: Deutsch-Französi- 
sche-Wirtschaftshefte 6/1951, S.61-63. LVA-Archiv Saarbrücken, Niederschrift der Sitzung des 
Technischen und des Beratenden Ausschusses vom 21.1.49. 
195 
LA SB, MifAS, Bü.ll, Karl Ammann an Arbeitsminister Kirn 14,1.49. 
68
	        
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