Darüberhinaus wirkte die Wirtschaftsunion mit Frankreich als sozialpolitischer Kataly¬
sator, dies galt insbesondere für die Familienpolitik, denn hier segelte das Saarland im
Windschatten des französischen Wirtschaftspartners, während die bundesdeutsche
Diskussion durch das dunkle NS-Erbe nur schwer vorankam.
Der Blick auf die Wiedergutmachung zeigt aber auch gegenüber bundesdeutschem
Niveau deutliche Defizite. Sie haben ihre Ursache in der Sondersituation des Saar¬
landes. Letztlich entfaltete sich die saarländische Sozialpolitik unter anderen gesell¬
schaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, zu erklären aus der jeweiligen
besonderen Situation.
Durch die Wirtschaftsunion mit Frankreich profitierte das Saarland bis zu Beginn der
fünfziger Jahre von dem zu diesem Zeitpunkt noch gegenüber der Bundesrepublik
deutlich höheren Sozialprodukt. Um 1950 war es noch um fast ein Viertel größer als
das der Bundesrepublik, ab 1950/51 verschlechterte sich aber bereits die Kaufkraft der
Franzosen.444 Gleichwohl lag der reale private Pro-Kopf-Verbrauch in der Bundesre¬
publik bis 1952 noch etwa 14 Prozent unter dem des letzten Vorkriegsjahres, nicht
zuletzt deshalb, weil ein hoher Anteil des Sozialprodukts in den Investitionsbereich
gelenkt wurde.445 Das frühere Einsetzen des wirtschaftlichen Aufschwungs an der Saar,
Heinen spricht vom frühen Wirtschaftswunder, ermöglichte es, früher über einen
sozialpolitischen Verteilungsspielraum zu verfügen. Dies wurde auch von den Deut¬
schen im Grenzraum zum Saarland so wahrgenommen und äußerte sich im Spitznamen
"Speckfranzosen".446
Diese Entwicklung wurde begünstigt durch die Tatsache, daß das Saarland sich dem
Vertriebenenproblem nicht stellen mußte. Zwischen 1945 und 1950 kamen 7 Millionen
Vertriebene und bis 1961 3 Millionen Flüchtlinge in die Bundesrepublik, davon allein
aus der SBZ bis 1950 1,6 Millionen Menschen. Dieser Personenkreis stellte 1950 20
Prozent der westdeutschen Bevölkerung. Die Integration dieses Heeres von Flücht¬
lingen und Vertriebenen, von fast 9 Millionen sozial deklassierten und pauperisierten
Darryl Holter, Politique charbonnière et guerre froide 1945-1950, in: Le Mouvement social
130/1985, S.62, Anm.60. Die wirtschaftliche Verschlechterung ist im Kontext der Streikbewegungen zu
sehen, die im März 1950 zu Rückgängen bei der Stahlproduktion führten, siehe: L'anné politique
1950, S.81.
445 Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und
deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980, S.203 f.
446 Siehe dazu: Armin Heinen, Vom frühen Scheitern der französischen Saarpolitik. Politik und
Ökonomie 1945-1950, in: Von der 'Stunde 0' zum 'Tag X’, Das Saarland 1945-59. Katalog zur Ausstellung
des Regionalgeschichtlichen Museums im Saarbrücker Schloß, Saarbrücken 1990, hrsg. vom Stadtverband
Saarbrücken, Merzig 1990, S.156-158, 167. Ders., Zur französischen Wirtschaftspolitik an der Saar, in:
Rainer Hudemann und Raymond Poidevin (Hrsg.), Die Saar 1945-1955. Ein Problem der europäischen
Geschichte, München 1992, S.160, 164 f., 173.
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