IV. SOZIALER BESITZSTAND1 UND 'ROSINENTHEORIE':
LEISTUNGSVERGLEICH SAARLAND - BUNDESREPUBLIK
Die Erinnerung vieler Saarländer an die sozialen Errungenschaften der Ära Hoffmann
und das Wort vom "sozialen Besitzstand" soll im folgenden Kapitel an einigen Bei¬
spielen wie der Feiertagsregelung, der Familienpolitik, der Kriegsopferversorgung und
der Wiedergutmachung einer kritischen Prüfung unterzogen werden. In diesem Kon¬
text steht die Frage, inwieweit die Sondersituation des Saarlandes das sozialpolitische
Leistungsniveau beeinflußt hat, wie sich bestimmte sozialpolitische Maßnahmen - etwa
in der Familienpolitik - gesellschaftlich ausgewirkt haben, inwieweit das Saarland die
sozialpolitische Diskussion der Bundesrepublik im Sinne einer Interaktion beeinflußt
hat, und warum der sogenannte "soziale Besitzstand" nach dem Beitritt des Saarlandes
zur Bundesrepublik nicht bewahrt werden konnte.
1. Feiertagsregelung
Die Feiertagsregelung verdeutlicht paradigmatisch, wie das Saarland aus seiner Son¬
dersituation sozialpolitische Vorteile ziehen konnte. Vor Inkrafttreten der Wirtschafts¬
union waren im Saarland der Karfreitag und der Buß-und Bettag als protestantische
Feiertage sowie Fronleichnam, Mariä Himmelfahrt und Allerheiligen als katholische
Feiertage gesetzlich verankert. Oster- und Pfingstmontag sowie der erste und zweite
Weihnachtsfeiertag waren Feiertage, die von beiden Konfessionen begangen wurden.
Bezahlte Feiertage waren Neujahr, Oster- und Pfingstmontag, der 25. und 26. Dezem¬
ber sowie der 1. Mai.1 Auf den Tag der Arbeit als gesetzlicher und bezahlter Feiertag
war die saarländische Sozialdemokratie sehr stolz, so hieß es in einem Bericht über den
Zweiten ordentlichen Parteitag der SPS vom 15. Juni 1947:"Der 1. Mai als gesetzlicher,
bezahlter Feiertag der Arbeit, gesetzlich verankert. Ist das nicht ein Sieg der Idee!?"2
Der 1. Mai als Tag der Arbeit war 1889 vom Internationalen Arbeiterkongreß in Paris
zum "Internationalen Arbeitsfeiertag" proklamiert worden. Im Saarland gewannen, wie
Ludwig Linsmayer feststellt, die Feiern zum 1. Mai erst relativ spät nach dem Ersten
Weltkrieg den Charakter einer Massenveranstaltung. Er erklärt die "historische Ver¬
spätung" mit der bis 1919 an der Saar schwachen Sozialdemokratie, dem sogenannten
"saarabischen" System, dem unternehmerischen Sozialpatriarchat und der Dominanz
des saarländischen Katholizismus und seiner Verankerung im proletarischen Milieu
1 Landesarchiv Saarbrücken (LA SB), Verwaltungskommission (VWK), Nr.260, Regierung des Saarlandes,
Generalsekretär Kuchenbecker, Vermerk über die Neuregelung der gesetzlichen Feiertage nach
französischem Vorbild vom 30.12.47. Direktion für Arbeit und Wohlfahrt, Pfaff, an Kuchenbecker vom
13.11.47. Siehe die entsprechenden Verordnungen, in: Abi.1945, S.37; Abi.1947, S.104, 107, 157;
Abi.1948, S.23.
2 LA SB, Nachlaß Richard Kirn, Nr.4, Bericht über den Zweiten ordentlichen Parteitag der SPS vom 15.
Juni 1947, o. Oa, S.17.
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