Wie aber stand es um das Mittelreich, das der Vertrag von Verdun 843 begründet hatte? Sein
Herrscher, Kaiser Lothar I., war zweifellos ein Verlierer des fast dreijährigen Bruderkrieges,
der mindestens die Oberherrschaft im Gesamtreich beansprucht hatte und nun ein lang
gezogenes Reich zwischen den ethnisch gefestigteren Reichen seiner Brüder erhielt. Müßig
ist es, über die Lebensfähigkeit dieses Mittelreiches zu diskutieren, das immerhin über die
Herrschaftszentren Aachen und Rom verfügte. Engelbert Mühlbachers Einschätzung, dieses
Reich sei ein „künstliches Gebilde ohne innere Einheit, ohne festen Zusammenhang", von
"unförmlicher Gestaltung",48 ist zweifellos einseitig; verkennen sollte man vor allem nicht,
daß dieses Reich wenigstens in seinen Flanken vorerst von äußeren Feinden verschont
blieb, gedacht sei an Slawen, Mährer und Dänen, die das Ostreich bedrängten, an die Nor¬
mannen andererseits, die Karls d. K. Westreich heimsuchten. Aber Lothar I. vermochte
wenig Nutzen aus dieser Situation zu ziehen. Hatte er die Lehren des Bruderkrieges so
gründlich begriffen, daß er die Teilung von Verdun voll respektierte? Oder plagte den bereits
795 Geborenen sein Alter?
Früh schon hatte Lothar I. seinen ältesten Sohn Ludwig (II.) als Unterkönig für Italien einge¬
setzt, dort war er 844 vom Papst zum rex Langobardorum gekrönt worden, und seit seiner
Erhebung zum Mitkaiser in Rom im Jahre 850 übte er in Italien eine selbständige Herrschaft
aus. Er behielt sie nach des Vaters Tod. Dieser hatte angesichts einer tückischen Erkrankung
sein Reich 855 unter seine drei Söhne geteilt, war in das Eifelkloster Prüm eingetreten und
bald darauf verstorben. Mit ausdrücklicher Zustimmung der Großen hatte Ludwig II. bei der
Teilung von 855 Italien bestätigt erhalten - er empörte sich über die schmale Abfindung,
weil er das Königreich schon längst besäße49 der jüngste Sohn Karl erhielt die Provence
und den südlichen Teil Burgunds, während Lothar II. die nördlichen Gebiete des väterlichen
Mittelreiches mit dem Zentrum Aachen erhielt. Nach ihm nennt man dieses Teilreich
Hlotharii regnum oder Lotharingia. - Dessen Geschichte zu erörtern, steht mir im begrenz¬
ten thematischen Rahmen nicht zu. Riskieren läßt sich aber die Feststellung, daß die
drei infolge der Erbteilung von 855 entstandenen Teilreiche durchaus abgerundete
Territorialkomplexe waren, deren Existenz rechtlich gut abgesichert war, wenngleich die
benachbarten Oheime nach fränkischer Tradition machtlüstern waren und blieben. Wenn
sie dabei auch Erfolge verzeichneten, dann lag dies - wenigstens unter dem Aspekt des
Teilungsprinzips - an Lothars 11. ehelicher Kinderlosigkeit. Obwohl der König von einer sog.
Friedelfrau einen zur Nachfolge fähigen Sohn besaß, suchte er die Ehescheidung zugunsten
der Friedei Waldrada, um damit den Sohn aus nicht kirchlich sanktionierter Verbindung zu
legitimieren. Alle Lehren der fränkischen Dynastiegeschichte hatte er offenbar vergessen,
und es kann niemand verwundern, daß der Jahre andauernde Ehestreit Lothars II. den Ohei¬
men Ludwig d. D. und Karl d. K. in die Hände spielte: Die Teilungsverträge von Mersen 870
und noch von Ribemont 880 sicherten dem Ost- wie Westreich das Erbe Lothars II. Die
Kirche aber hatte einen entscheidenden Einfluß auf das allgemeine Eherecht durchgesetzt,
auch das Papsttum profilierte sich beim Ehestreit Lothars II. als „Hüter der Moral".50
48 Engelbert MühIbacher, Deutsche Geschichte unter den Karolingern, Stuttgart 1896, S. 461.
49 Ebd. S. 487.
50 Hans-Werner Goetz, Lothar II., in: LMA 5 (1991) Sp. 2124.
25