Reinhard Schneider
DIE EINHEIT DES FRANKENREICHES UND DAS TEILUNGSPRINZIP
Nach allgemeinem Verständnis ist „Lotharingien" ein „zwischen dem West- und Ostfran¬
kenreich gelegenes 'Regnum' des Frankenreiches".1 Es ist eingebettet in die Geschichte und
die Räume des fränkischen Großreiches, das sich seit dem 9. Jahrhundert in einem
Auflösungsprozeß befand und aus seinem politischen Gesamtverband eine Reihe anderer
Reiche entließ, die allerdings nicht alle von längerer Dauer waren. Sichtbar werden die
wesentlichsten Einschnitte dieser Großreichsauflösung in Teilungsverträgen. Insofern zielt
unser Thema: „Die Einheit des Frankenreiches und das Teilungsprinzip" auf den Ausgangs¬
punkt der Geschichte Lotharingiens und seiner allgemeinen Grundlagen, wohl auch auf
entscheidende Bedingungsfaktoren seiner Existenz. Warum, so könnte man fragen, wirkte
sich das im Frankenreich seit rund vier Jahrhunderten praktizierte Teilungsverfahren erst im
Verlauf des 9. Jahrhunderts und besonders im Falle Lotharingiens, das seit König Lothars II.
Alleinherrschaft im weiten Land „zwischen Maas und Rhein, der Nordseeküste und dem
Gebiet von Besançon"2 im engeren Sinne so bezeichnet wird, in anderer Weise aus als
zuvor, d.h. warum führte es zu dauerhafterem Bestand der Teile? Sollte sich das fränkische
Teilungsprinzip im Verlauf der Jahrhunderte so erschöpft haben, daß es keine irgendwie
doch noch einigende Kraft mehr besaß? Es liegt sogar nahe, eine paradox anmutende These
zu formulieren von dem Teilungsprinzip als letztendlichem Bedingungsfaktor des fränki¬
schen Gesamtreiches. -Die aufgeworfenen Fragen zielen auf Kernprobleme der fränkischen
Geschichte, ihre auch nur andeutende Beantwortung zwingt zur Rückschau bis zu Chlod¬
wig, den Begründer des Frankenreiches; sie erfordert aber auch Ausblicke über die Wende
vom 9. zum 10. Jahrhundert hinaus. Die längsschnittartige Anlage meiner Betrachtung ist
mithin vorgegeben, ich selbst werde mich um thematische Straffung bemühen.
Über die allgemeine Relevanz einer Thematik von Einheit und Teilung bedarf es in unserer
Jahrhunderthälfte kaum rechtfertigender Worte. Auch handelt es sich nicht nur um einen
deutschen Erfahrungshorizont. Immerhin hat der englische Historiker Timothy Garton Ash in
seinem Buch von 1993: „Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent" dar¬
auf hingewiesen, daß es in Europa durchaus unterschiedliche Teilungsformen seit jeher gab.
So definierte Ash die von ihm erörterte Jalta-Teilung Europas, deren zentraler Aspekt die
Teilung Deutschlands betraf, in folgender Weise: „Sie unterschied sich von vorangegange¬
nen Teilungen Europas durch ihre historische Willkür, ihre Absolutheit, die asymmetrischen
Rollen der teilweise außereuropäischen atomaren Supermächte und die Kongruenz der
militärischen, politischen und wirtschaftlichen Unterschiede".3
1 Michel Parisse, Lotharingien, in: LMA, Bd. 5 (1991) Sp. 2128.
2 Ebd. Sp. 2129.
3 Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent (München, Wien
1993) S. 24.
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