Gauzlin die Reform von St-Evre nach dem Vorbild des cluniazensisch geprägten Klosters
Fleury durchgeführt und von dort sowohl ein Exemplar der (in seinem Bistum angeblich
nicht vorhandenen94) regula s. Benedicti als auch eine Aufzeichnung über die in Fleury gel¬
tenden Gewohnheiten nach Toul geholt haben. Gehört die Reform von St-Evre demnach gar
nicht in genuin lothringische, sondern vielmehr in exogene, in cluniazensisch-burgundische
Zusammenhänge?
Zweifellos wird man von einer floriazensischen Beeinflußung der Reform von St-Evre aus¬
gehen müssen;95 aber man wird die Nachricht, Bischof Gauzlin habe von überall her viros
prudentes nach St-Evre geholt,96 nicht so deuten dürfen, als ob dieses Unternehmen zu einer
„Sammelgründung"97 im Sinne einer Neugründung oder gar zu einer Vertreibung des
ursprünglichen Konventes geführt habe. Vielmehr ist diese Nachricht wohl so zu verstehen,
daß diese viri prudentes zusätzlich in den Konvent aufgenommen worden sind und zusammen
mit den alteingesessenen Mönchen, soweit diese es nicht vorzogen, die Abtei zu verlassen, die
Reform in Angriff genommen haben. Bei diesem Erneuerungsprozeß konnten dann sowohl die
klostereigenen als auch die floriazensischen Reformtraditionen wirksam werden.
Was aber fand Gauzlin überhaupt so attraktiv am Klosterleben von Fleury? In den 'Miracu¬
lis S. Bercharii' wird besonders Odo von Clunys Wirken in dem Loirekloster hervorge¬
hoben,98 wodurch der Eindruck entstehen kann, als ob es die besondere Spiritualität Clunys
gewesen sei, die den Bischof angezogen habe. Aber gerade dies dürfte nicht, zumindest
nicht in der Hauptsache, der Fall gewesen sein, denn die floriazensischen Consuetudines99
ähneln den Bräuchen, die in Abteien lothringisch-gorzischer Prägung geübt wurden, und
nicht den cluniazensischen Gewohnheiten.100 Cluny hatte zudem um 930 ja auch noch
nicht alle seine exklusiven Eigenheiten voll ausgeprägt.101
Außerdem hatte sich der Konvent von Fleury dem Einzug des Cluniazenserabtes Odo so
lange widersetzt, bis dieser versprochen hatte, die Abtei nicht cluniazensisch zu überfrem¬
den.102 Weniger die Tatsache, daß Fleury von Cluny aus reformiert worden ist, als vielmehr
der Umstand, daß in dem Kloster überhaupt schon eine Reform durchgeführt worden war,
dürfte daher das Interesse des Touler Bischofs an der Lebensordnung dieser Abtei geweckt
94 Ex Mirac. s. Apri c. 30 = MGH SS 4, S. 519.
95 Vgl. dazu Anm. 92, aber auch Semmler, Das Erbe (wie Anm. 8), S. 35.
96 Vgl. Anm. 93.
97 Zum Begriff und zur Sache vgl. H a II i nger I, S. 61, und ders., in: CCM VII 1, S. 343.
98 Vgl. Anm. 93 und Hal linger I, S. 60 f.
99 Zu diesen vgl. CCM VII 1, S. 331-370, und CCM VII 3 (1984) S. 5-60.
100 Vgl. dazu Lin Donat, Recherches sur l'influence de Fleury au Xe siècle, in: Etudes ligériennes d'hi¬
stoire et d'archéologie médiévale (= Mémoires exposés présentés à la semaine d'études médiévales de
Saint-Benoît-sur-Loire du 3e au 10° juillet 1969), Auxerre 1 975, S. 1 65-1 74, und Ha 11 i nger, in: CCM
VII 1, S. 343-350.
101 Vgl. Anm. 23 und 24.
102 Vgl. dazu Sackur I, S. 89 ff.; Georges Chenesseau, L'abbaye de Fleury à Saint-Benoît-sur-Loire.
Son histoire - ses institutions - ses édifices, Paris 1931, S. 1 7 f.; Joachim Wol lasch, Königtum, Adel
und Klöster im Berry während des 10. Jahrhunderts, in: Gerd Tellenbach (Hg.), Neue Forschungen
über Cluny und die Cluniacenser, Freiburg 1959, S. 1 7-165, bes. 107-110; Semmler, Das Erbe (wie
Anm. 8), S. 34.
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