Kurt Bohr
Chef der Staatskanzlei des Saarlandes
ANSPRACHE ZUR ERÖFFNUNG DES KOLLOQUIUMS
AM 24. MAI 1994 IN SAARBRÜCKEN
Seit der Entstehung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und des in ihrer Weiterent¬
wicklung sich vollziehenden Abbaues und Wegfalls der Grenzen werden öfter Fragen nach
der Geschichte der benachbarten Staaten und Völker gestellt. Das Interesse für Grenzverän¬
derungen in früheren Jahrhunderten, für vor langer Zeit schon zerfallene Herrschaftsräume
ist gewachsen und beschränkt sich nicht nur auf die kleine Gruppe historischer Fachwissen¬
schaftler. Gerade die ambivalente Beurteilung von Wert und Gefahr des Nationalstaates hat
den Blick geschärft für die Geschichte solcher staatlicher Gebilde, die sich nicht durch die
Deckung von Staatsgebiet, Volk und Sprache definierten.
Diese Entwicklung läßt sich hier an der Saar genau verfolgen. Seit die Grenze gegen Frank¬
reich durchlässiger geworden ist, wurde parallel mit dem Ausbau des Wirtschaftsraumes
Saar-Lor-Lux das benachbarte Lothringen von den Saarländern entdeckt, nicht nur von
einzelnen Geschäfts- und Handelspartnern, sondern von großen Teilen der Bevölkerung.
Lothringen mit seinen landschaftlichen Schönheiten und seinen kulturellen Zentren wurde
ein beliebtes Reise- und Ausflugsziel. Gleichzeitig begann man, Gemeinsamkeiten in der
Geschichte zu entdecken und zwar nicht nur die leidvollen Erfahrungen eines immer
wieder von Kriegen schwer heimgesuchten Grenzlandes, sondern auch frühere Zusammen¬
gehörigkeiten politischer, kirchlicher und kultureller Art, lange bevor die modernen
Staatsgrenzen gezogen wurden. Vereinfacht kann man sagen: Die wirtschaftliche Zusam¬
menarbeit in der Saar-Lor-Lux-Region weckte Reminiszenzen an Lotharingia, jenes Zwi¬
schenreich, das sich von der Wasserscheide zwischen Saône und Mosel über das
Mündungsgebiet von Schelde, Maas und Rhein bis nach Friesland erstreckte.
Die Fläche des heutigen Saarlandes gehörte zum Reich der beiden karolingischen Lothare,
zum regnum Lotharii, und daher freue ich mich, Sie hier an der Stelle, wo zu lotharingischer
Zeit eine königliche Burg stand, herzlich begrüßen zu dürfen zu einem Kolloquium, das in
mehreren Referaten die Geschichte Lotharingiens in politischer, wirtschaftlicher, sozial¬
geschichtlicher, kirchlicher, geistiger und künstlerischer Hinsicht behandeln wird.
Ich heiße die Mediävisten aus den Fachgebieten der Geschichte, der Kunstgeschichte, der
Mittelalterarchäologie, der Germanistik und Romanistik aus Frankreich, den Beneluxstaaten
und den Ländern der Bundesrepublik, ebenso die Wissenschaftler und Geschichtsfreunde
aus dem Saarland herzlich willkommen. Ich verzichte auf eine namentliche Begrüßung
einzelner Persönlichkeiten. Ich danke der Referentin und den Referenten aus Frankreich
und Deutschland für ihre Mitwirkung bei dem Kolloquium. Die Freude, dieses Kolloquium
ausrichten zu können, unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine
als Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im
Rahmen des Vertrages über die deutsch-französische Zusammenarbeit in der Amtsperiode
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