aber mit seinem Ideenkonglomerat von "völkischer Lehre", "Kampf ums Dasein",
Antisemitismus, Rassenideologie und Lebensraumdenken erschien die Lösung der
Saarfrage in einem anderen Lichte. Die Frage war, inwiefern die saarländischen
Parteien, die Verbände, die Kirchen, die Gewerkschaften, die Medien, ja alle be¬
wußtseinsbildenden Gremien willens und fähig waren, die neue Lage zu erkennen,
zu beurteilen, zu werten und die entsprechenden Konsequenzen daraus zu ziehen.
Schuldzuweisungen in der Retrospektive träfen jedoch nicht nur die Beteiligten an
der Saar, sondern auch den Völkerbund6; war er, d.h. die Ständigen Mitglieder des
Rates (Frankreich, Großbritannien, Italien und ab 18. September 1934 die sozia¬
listische Sowjetunion)7 bereit, die Versailler Verpflichtungen formaljuristisch zu
erfüllen oder unter dem Druck der Ereignisse8 die Abstimmungsmöglichkeiten so
zu gestalten, daß der saarländischen Bevölkerung bei aller demokratischen Wahl¬
freiheit die Chance eingeräumt wurde, dem Nazi-Regime zu entgehen, ohne ihr
Deutschtum zu leugnen.
Diese Chance bot die Status quo-Altemative des Saarstatuts; doch nur scheinbar,
manifestierte sie doch im Saargebiet zumindest ein künstliches Regierungssystem
sowie wirtschaftliche und politische Zustände9, die bis 1933 und z.T. bis 1934 von
allen Parteien abgelehnt wurden und sicherlich Argumentationshilfen lieferten in
der traditionellen und nationalen Bindung an die deutsche Heimat. Und während
nach dem 30. Januar 1933 die nationale Übereinstimmung an der Saar erst all¬
mählich zerfiel, sich bereits am 14. Juli 1933 die Erste Deutsche Front als Arbeits¬
gemeinschaft der bürgerlichen Parteien (Deutschnationale Volkspartei, Deutsch-
Saarländische Volkspartei, Bürgerliche Mitte, Zentrum) und der NSDAP-Saar10
u. J. Pirro; eine weitere Nummer der Zeitung beschäftigte sich mit der Problematik aus franz. Sicht. LA
Saarbrücken, Best. Nachlaß R. Becker, Nr. 382.
6 Vgl. I. Plettenberg, Der Völkerbund, S. 54f.
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Wahlmitglieder des Völkerbundsrates von Jan. 1933 bis Jan. 1935 mit unterschiedlicher zeitlicher Be¬
teiligung: Argentinien, Australien, Chile, China, Dänemark, Mexiko, Panama, Polen, Portugal, Spani¬
en, Tschechoslowakische Republik, Türkei.
Q . . .
Vgl. die Dreimonatsberichte der Reko an den Rat des Völkerbunds nach dem 30. 1. 1933, z.B. den Re-
ko-Bericht Nr. 54, 1.4.-30.6.1933: SDN JO 14, 1933, S. 1.124-1.135 oder Nr. 55, 1.7.-30.9.1933:
SDN JO 15, 1934, S. 34-43 oder die Denkschrift der KPD/Saar vom Juni 1934 mit R. Kraushaar, W.
Purper und G. Regler (1898-1963, geb. in Merzig/Saar, 1933 von Berlin an die Saar, 1934 Sowjet¬
union, 1935 Frankreich, 1936 Sowjetunion und Spanien, 1937 Internierung in Frankreich, 1940 Mexi¬
ko. Vgl. G. Schmidt-Henkel, Gustav Regler, S. 183-209). Siehe "Rundschau" Nr. 35 v. 7.6.1934. Eine
Auflistung der Petitionen und Denkschriften an den Völkerbund bei M. Zenner, Parteien, S. 347-376.
9 Vgl. F. Jacoby, Herrschaftsübemahme, S, 25-53, M. Zenner, Parteien, S. 39-88.
K. Bartz, Weltgeschichte, S. 29f. M. Zenner, Parteien, S. 269. F, Jacoby, Herrschaftsübemahme, S.
102ff Der Aufruf des Landesleiters der Deutschen Front, Pirro, zur Bildung der Deutschen Front im
Saargebiet unter dem Losungswort, "Unser Deutschland" als Volksgemeinschaft aller Saardeutschen
ohne Unterschied von Partei, Beruf und Konfession, datiert vom 1.3.1934. Am gleichen Tag bildete sich
die Deutsche Front in eine Sammlungspartei zur Vorbereitung der Saarabstimmung um, Auflösung der
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