Identitätsfindungsprozesse sowie nationale Abgrenzungsmechanismen überlagerten sich
offensichtlich in der Grenzregion.
Die Verantwortlichen befanden sich im Zusammenhang mit den Wanderungsbewegungen
in einem Zwiespalt. Zum einen machte der industrielle und der landwirtschaftliche
Arbeitskräftebedarf den Einsatz von auswärtigem - und damit auch ausländischem -
Personal unumgänglich. Zum anderen sah man durch die damit verbundenen Bevölke¬
rungsbewegungen permanent die Gefahr einer nationalen und sozialen "Überfremdung"
sowie des Verfalls traditioneller gesellschaftlicher Normen und Werte. Mangels eines
umfassenden sozialpolitischen Konzepts vertröstete man sich mit der Vorstellung, die
Bevölkerungsmobilität komme mit der Saturierung der Industrie bald zum Erliegen.
Angesichts der akuten sozialpolitischen Brisanz der Lage scheute man vereinzelt aber
auch nicht vor Kooperationsinitiativen mit den französischen Stellen, d.h. dem außen¬
politischen Gegenspieler, oder dem innenpolitisch zeitweise bekämpften katholischen
Klerus zurück.
Migration und Wohnungsfrage - Vieldiskutierter Handlungsbedarf bei minimaler
Handlungsbereitschaft
Eines der herausragenden Problemfelder, die sich im Zuge des Wanderungsgeschehens
in den expandierenden Industriestädten der Saar-Lor-Lux-Region in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts auftaten, war die Wohnraumversorgung. Allgemein herrschte akuter
Wohnraummangel und die Gefahr des Ausbruchs von Epidemien aufgrund der Über¬
belegung von Wohnungen und damit verbundener unhygienischer Wohnverhältnisse. Das
fortwährende Auftreten von Typhuserkrankungen bis hin zur Pockenepidemie nach der
Jahrhundertwende legen ein beredtes Zeugnis von den städtischen Wohnbedingungen
im Untersuchungsraum ab. (S.283ff.)
Aus den zeitgenössischen Dokumenten spricht vor allem Abscheu über die Lebens¬
umstände der fluktuierenden Arbeiterbevölkerung. Die Kritik an den Behausungen der
Ausländer äußerte sich dabei in besonders blumigen Schilderungen. Strukturell wurde
in erster Linie das Kost- und Schlafgängerwesen der "Fremdarbeiter" im allgemeinen
als problematisch empfunden. Restriktive Polizeiverordnungen und staatliche Versuche,
ein stärkeres betriebliches Wohnungsbauengagement zu erzwingen, scheiterten angesichts
der schnell steigenden Wohnraumnachfrage ebenso wie Konzepte zur Förderung des
Schlafhausbaus an den Hüttenstandorten in allen drei Teilregionen. Das Bestreben
übergeordneter staatlicher Stellen, den Wohnungsbau in kommunaler Regie voranzutrei¬
ben, verschaffte dem Problem ebenfalls keine wesentliche Abhilfe. Die lokalen Ent-
scheidungsträger der Region entzogen sich der gesundheitspolitischen Verantwortung
unter Verweis auf die staatliche Aufsicht über das Gesundheitswesen und unter Rücksicht
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