tungen vorrangig in der eigenen Nachbarschaft und keineswegs mit dem Ausland zustande
kamen. Symptomatisch hierfür war die Tendenz zur Unterschätzung der Wanderungsbereit¬
schaft des eigenen Staatsvolkes, bei gleichzeitiger Überschätzung der Gefahr einer
nationalen Überfremdung. Beispielsweise hielten die Staatsorgane an der Saar die Land-
Stadt-Wanderung aus dem Hunsrück und der Eifel in das Saarrevier zeitweilig für kaum
relevant und glaubten weder an eine Gefährdung des landwirtschaftlichen Arbeits¬
kräftepotentials in diesen Regionen, noch wurde die Vehemenz der Bevölkerungs¬
agglomerationen in der unmittelbaren Industriezone hinreichend wahrgenommen. Das
Eigenengagement des preußischen Staates in der Montanindustrie (Kohlenbergbau) mit
seinen spezifischen Rekrutierungsmustem und siedlungspolitischen Rahmenbedingungen
dürfte den Blick für die andersartige Situation in den benachbarten Hüttenstädten etwas
getrübt haben. Andererseits wurde sowohl in der preußischen Rheinprovinz als auch im
Reichsland Elsaß-Lothringen ein überaus großer Verwaltungsaufwand getrieben, um
eventuelle polnische Immigrationsbewegungen in die südwestdeutschen Industriereviere
zu kontrollieren, obwohl deren Wanderungsbeitrag minimal war.
Dieser Wahrnehmungshorizont war dezidiert bürgerlicher Art, wie die politischen
Entscheidungsträger ausschließlich dem Bürgertum zuzurechnen waren. Denn während
die Zeitungen und Verwaltungsenqueten im Zusammenhang mit dem Wanderungs¬
geschehen ständig nationalpolitisch relevante Eventualitäten erörterten und daneben ganz
entschieden Moral und Sitte der mobilen Bevölkerungsteile anmahnten, gab sich die
eigene Unterschichtenbevölkerung offenbar zumindest solange unbeeindruckt und ohne
jede Protestneigung gegenüber den "Fremdarbeiter"-Kontingenten, bis sie ihre eigenen
Arbeitsplätze, d.h. ihre eigene Existenzgrundlage konkret gefährdet sahen. Erst dann
stimmten sie in den xenophoben Tenor ein. Übergriffe auf "Fremdarbeiter" sind folglich
auch nur äußerst selten bezeugt und betrafen, soweit dies zu ermitteln ist, nur die
Italiener, die sich als einzige Landsmannschaft innerhalb der Region in einer relativ
ausgegrenzten Situation befanden. Die Sittlichkeitskritik betraf die inländische Arbeiter¬
bevölkerung ohnehin gleichermaßen wie die "fremden" Migranten, wenngleich im
genannten Schriftgut diesbezüglich expressis verbis in erster Linie von den "Fremden"
die Rede war, die angeblich auf die eigene Einwohnerschaft negativ einwirkten. Es fallt
auf, daß in der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Wanderungsgeschehen zumeist
die Begrifflichkeit des "Fremden" verwandt wurde, womit man aus der regionalen
Perspektive heraus neben den Ausländem auch zugewanderte Westfalen oder Arbeiter
aus dem Berliner Raum, d.h. unter Umständen eigene Staatsbürger, bezeichnete, während
Migranten aus der näheren Rekrutierungszone, selbst wenn sie eine andere Staats¬
angehörigkeit innehatten, anscheinend häufig implizit nicht unter diese Konnotation fielen.
Ein behördliches Vorgehen im Kontext der Migrationen konnte allerdings ausschließlich
gegen (Reichs-)Ausländer erfolgen. Wahrnehmbare soziale Vemetzungsvorgänge, mentale
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