Full text: Migration und Urbanisierung

Unterschichten auch einen grundsätzlichen Wertewandel im Übergang von der agrarisch¬ 
ländlichen zur industriell-urbanen Lebensweise.4 
Die Rezeption der Migrationen seitens der gesellschaftlich maßgeblichen bürgerlichen 
Öffentlichkeit zeichnete sich durch eine äußerst selektive Wahrnehmung aus. Obwohl 
jeweils nahezu die gesamte Bevölkerung der Industriestaaten in der zweiten Hälfte des 
19. Jahrhunderts in das Wanderungsgeschehen miteinbezogen war, gab der Zuzug 
ausländischer Wanderarbeiter stets besonderen Anlaß zur Besorgnis. Die Komplexität 
des Wanderungsgeschehens wurde offenbar nicht erfaßt, die Problematik in der in¬ 
nenpolitischen Diskussion allzu oft auf die Ausländerthematik reduziert und damit an 
den eigentlichen sozialen Problemen vorbeigeredet. 
Das überaus hohe Mobilitätsaufkommen während des Untersuchungszeitraums bildete 
ausschließlich im kleinen Großherzogtum Luxemburg effektiv ein Ausländerproblem. 
Dies belegen die Zuzugsziffem nach Esch/Alz. des Jahres 1903, wo von 3.676 gezählten 
Immigranten neben 1.130 Luxemburgern 2.546 nicht die luxemburgische Staatsangehörig¬ 
keit besaßen. Es beunruhigte die örtlichen Behörden darüberhinaus, daß diese Migranten 
auch weiterhin hochgradig mobil blieben. Denn 2.350 der 3.300 Personen, welche die 
Gemeinde im gleichen Jahr verließen, waren Ausländer, nur 950 Luxemburger.5 Die 
Mobilität in den Industriegemeinden des luxemburgischen Erzbeckens war zeitweise so 
groß, daß die Orts- und Fremdenpolizei rein verwaltungstechnisch schon allein mit der 
karteimäßigen Erfassung des Wanderungsstromes überfordert war.6 
In diesem Kontext vernahm man aus der Presse folgenden Tenor: "Für die Fremden be¬ 
steht im Großherzogtum die größte Freizügigkeit. (...) Kein Wunder, daß das Land von 
fremden Vagabunden und Landstreichern förmlich überfüllt ist und die Verbrecher das¬ 
selbe zum willkommenen Schlupfwinkel aufsuchen."7 Phänomene wie Kriminalität und 
soziale Verelendung wurden als "Ausländerimport" abqualifiziert, die allgemeine soziale 
Problematik urban-industrieller Agglomerationen mit vermeintlichen Patentlösungen ka¬ 
schiert. 
Zumindest Teile des Escher Gemeinderates legten die ganz alltäglichen Folgen des 
"explosiven Emporschnellens der Bevölkerungszahlen" in erster Linie ebenfalls den 
4 Peter Becker beschreibt in ausführlicher Weise die präventive Intention der Polizeibehörden, 
die in der Praxis des 19. Jahrhunderts ihren Kompetenzbereich keineswegs ausschließlich auf 
sicherheitspolizeiliche Aufgaben beschränkt sahen, sondern deren Selbstverständnis unter 
Betonung der sittlich-moralischen Grundwerte der bürgerlichen Gesellschaft auf die Beförderung 
der "Wohlfahrt" abzielte. Vgl. Becker, Peter: Randgruppen im Blickfeld der Polizei. Ein Versuch 
über die Perspektivität des "praktischen Blicks", in: AfSG 32/1992, S.283-304, bes. S.284. 
5 Vgl. ACEs 520.0: Übersichten der Ein- bzw. Auswanderung in die Gemeinde [unvollst.]. 
6 Vgl. Kapitel C. 
7 Zeitungsausriß aus der Luxemburger Freie Presse v. 9.11.1893 in ANL J70/3. 
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