Schlagwort „Sowjetmacht + Elektrifizierung = Kommunismus“ erhoffte sich Lenin
eine bessere Durchsetzung seiner wirtschaftspolitischen Zielsetzungen6. Anschau¬
ungsunterricht für dieses Konzept hatte Lenin vor allem im Deutschen Reich erlebt,
das nach der Jahrhundertwende eine „elektrotechnische Umwälzung“ erfuhr, wie
Zeitgenossen feststellen konnten7.
Die gesamtwirtschaftliche Bedeutung der elektrischen Energie für die Entwicklung in¬
nerhalb der westlichen Industrienationen hob der Konjunkturforscher Joseph A.
Schumpeter hervor, indem er sie mit der langen konjunkturellen Aufschwungphase
des dritten Kondratieff verband: „Sie (die Elektrizität) hat zweifellos neue Industrien
und Waren, neue Einstellungen, neue Formen sozialen Handelns und Reagierens her¬
vorgerufen. Sie hat also industrielle Standortbindungen völlig umgeworfen, indem sie
das Element der Energie praktisch von der Liste der determinierenden Faktoren gestri¬
chen hat. Sie hat die relative wirtschaftliche Stellung der Nationen und die Bindungen
ihres Außenhandels verändert — oder verändert sie vielmehr noch“8. Die überragen¬
de allgemeine Bedeutung, die der Elektrizität für die Gesamtwirtschaft, aber auch für
Teilbereiche, etwa das Handwerk9, im Industrialisierungsprozeß zukam, ist in der
europäischen wirtschaftsgeschichtlichen Forschung immer wieder herausgestellt10,
bislang mangels geeigneter Quellenlage aber noch wenig beispielhaft untersucht
worden11. Die meisten Untersuchungen setzten allerdings den Zeitraum einer umfas¬
senden Elektrifizierung zu früh an12 und überschätzten das Tempo des Einsatzes elek¬
trischer Energie in der Industrie13. Erst neuere Forschungen bieten ein differenzierte-
res Bild14. Die volkswirtschaftliche Bedeutung elektrischer Energie kann nicht mit
den üblichen betrieblichen und gesamtwirtschaftlichen Kennziffern wie Zahl der Be-
6 Vgl. Haumann (1974); Hughes (1974), S. 157.
7 Z.B. Nochimson (1910); kritisch hierzu: Technik und Wirtschaft 3 (1910), S. 251; vgl.
auch Wirminghaus (1909),S.927,v.a.929ff.; Kämmerer (1910),S.392,403,413,424f.;
Schmitt (1926), S. 694ff.; der Nationalökonom und Sozialpolitiker Heinrich Her kner
sah im Aufkommen der Elektrotechnik durchaus positive Auswirkungen auf den seinerzeit
beklagten Einfluß von Maschinen auf die Situation am Arbeitsplatz: „Faßt man aber ledig¬
lich den gegenwärtigen Stand ins Auge, insbesondere die neuere Entwicklung der Elektro¬
technik, so schrumpft die vermeintliche Beeinträchtigung der Arbeitsfreudigkeit durch
Maschinengebrauch doch ganz außerordentlich zusammen.“ (Herkner, 1910, S. 552).
8 Schumpeter (1961), S. 181.
9 Der wissenschaftliche Berater des 1919 gegründeten „Forschungsinstituts für rationelle
Betriebsführung im Handwerk e.V.“, Walter Bucerius, unterstrich die herausragende
Bedeutung der elektrischen Energie folgendermaßen: „Zu den alten Symbolen des Hand¬
werks, dem Hammer und der Zange, tritt für das moderne Handwerk der Elektromotor.“
(Bucerius, 1924, S. 91).
10 Vgl. Sharlin (1967), S. 563ff.; Böhme (1969), S. 115; Landes (1973), S. 272ff.; Bor-
chardt (1976), S. 268; Fischer (1976), S. 539.; Ott (1987), S. 135ff.; Schäfer (1985);
ders. (1986), S. 456f.
11 Vgl. Henniger (1980), v.a. S. 120ff.; Noll (1975), S. 65f.; auch in den USA spielte der
Elektromotor für das Kleingewerbe eine entscheidende Rolle, vgl. Netschert (1967),
S. 247.
12 Beispielsweise bereits für den Zeitraum 1890-1900/02: Weber (1957), S. 18ff.; Timm
(1972), S. 50.
13 Mottek/Becker/Schröter (1975), S. 33ff., 62f.
14 Z.B. Henniger (1980).
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