Es ist deutlich sichtbar, daß die beiden Notizen - z. T. in denselben Handschriften
- in ihren Namensformen unterschiedliche Altersschichten abbilden, wobei die
Formen mit [au] die ältere Schicht repräsentieren, die mit [o] der Weiterentwick¬
lung des /au/ im Altfranzösischen folgen. Alle - mit einer Ausnahme - verraten je¬
doch ihre Abkunft von einer merowingerzeitlichen Schreibweise des germani¬
schen [hr] in den vertrauten Variationen <cr>, <gr>, <ghr>. Sie erhärten dem¬
nach den Verdacht auf einen historischen Kern der Chraudinguslegende.
Wenn wir versuchen, den historischen Kern in der von Richard neu geformten As¬
ketenlegende des hl. Chraudingus freizulegen, so haben wir als chronologischen
Anhaltspunkt innerhalb der Vita, nachdem die angebliche Begegnung mit Bischof
Paulus von Verdun als leicht durchschaubarer Versuch zur Anbindung an einen
bereits in Verdun bekannteren Heiligen verworfen werden muß, nur die Urkunde
des Königs Childerich II. (662-673/75), daspraeceptum ... gloriosi Childerici, qm
tune temporis Francorum obtinebat regnum. Es erweckt ein gewisses Vertrauen,
daß Richard beim Referat dieser Urkunde nicht einen der bekannteren Merowin¬
gerkönige wie z.B. Dagobert nennt. Soweit ich sehe, widerspricht auch der refe¬
rierte Rechtsinhalt keineswegs den königlichen Klosterprivilegien der Zeit.
Im Gegenteil: die von Richard referierte Merowingerurkunde erbringt den Beweis
dafür, daß der Hagiograph ältere, durchaus vertrauenswürdige Quellen zur Klo¬
stergeschichte besaß. Immunitätsprivilegien für Klöster sind nämlich für zeitge¬
nössische merowingische Könige häufiger belegt, gerade für Childerich II. und
seine Nachfolger Theuderich III. (673-690) und Chlodwig II. (690-694)460. Am
genauesten entspricht wohl das Privileg Theuderichs III. für St. Calais von 673/81,
wo Königsschutz und Immunität für die Mönche kombiniert werden:... liceat eis
sub sermone tuitionis nostrae vel sub emunitatis nostrae quietos vivere ac residere
...460a. Nur die Reservation des Weiherechts für den Diözesanbischof scheint in
Beaulieu auf den ersten Blick ungewöhnlich, jedoch könnten sich in diesem Teil
des Präzepts die Gefahren niedergeschlagen haben, die sich aus dem Rang des Klo¬
stergründers als episcopus für die Rechte des Ordinarius ergaben. Aber dazu spä¬
ter.
460 Immunitätsprivilegien zeitgenössischer merowingischer Könige sind z.B. MG DD Mer.
II Nr. 65 (Childerich II. für Senones, verunechtet nach Vorlage von 662/75); I Nr. 31
(Childerich II. für Montierender, 673 VII 4); I Nr. 53 (Theuderich III. für Stablo, um
681); I Nr. 54 (Theuderich III. für St. Bertin, 682 X 23); I Nr. 55 (Theuderich III. für
Montierender, 683 Mai 23); I Nr. 58 (Clodwig III. für St. Bertin, 691 VI1). Am genaue¬
sten entspricht MG DD Mer. I Nr. 50 (Theuderich III. für St. Calais, 673/81). Die Kö¬
nigsschutzformel von St. Calais war sicherlich in merowingischer Zeit weiter verbreitet,
als uns die fragmentarische Überlieferung erkennen läßt. Fast wörtlich wird sie wieder
aufgenommen im Immunitätsprivileg Pippins von 763 für Prüm (MG DD Karol. I Nr.
18), liegt aber auch der Urkunde desselben Königs von 752/68 für Echternach (ebd. Nr.
30) und dem wahrscheinlich zur selben Zeit überarbeiteten Diplom Theuderichs IV, für
Murbach von 728 (MG DD Imp. I Nr. 95; vgl, Bruckner, Regesta Nr. 114; Angenendt,
Monachiperegrini 94) zugrunde. Vgl. ferner zu Beaulieu Clouet, Histoire Verdun 1176;
Ewig, Trier 122.
460aMG DD Mer. I Nr. 50. Vgl. zur Entwicklung der tuitio und defensio des Königs zur Kö¬
nigsherrschaft über Klöster, Lévy-Bruhl,Étude 89 ff. 116 ff.
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