Wenn sie dennoch in dieser Frage unschlüssig blieb, so lag das zunächst daran, daß die An¬
nexion der Saar zwar verbreitet gutgeheißen wurde, daß man aber über die Art und Weise
ihrer Einverleibung höchst unterschiedliche Vorstellungen entwickelte. In diesem Sinne
gab es französischerseits keinen Einheitswillen, und darin liegt sicherlich eine wesentliche
Ursache für die stete Behauptung, daß Frankreich eigentlich nie die Absicht gehabt habe,
die Saar zu annektieren. Die Meinungsverschiedenheiten entzündeten sich vornehmlich
an der Frage, ob man fast eine Million Menschen, die sich als Deutsche fühlen, in den fran¬
zösischen Staatsverband aufnehmen könne, ohne auf Dauer Belastungen zu provozieren.
Das nationale Selbstbestimmungsrecht als hochgeschätzter Wert weckte hier starke
Skrupel. Aus der Fülle der Verlautbarungen und Erklärungen zur Saarfrage in der unmit¬
telbaren Nachkriegszeit lassen sich genug Belege finden, die die nachhaltigen Bedenken
in der französischen Öffentlichkeit gegen ein einseitiges Vorgehen unterstreichen. Im
Grunde lassen die Meinungsäußerungen drei Positionen erkennen. Nur eine Minderheit
verlangte eine direkte politische Annexion. Die Mehrheit zielte dagegen zunächst auf eine
wirtschafts- und währungspolitische Verbindung. Diese Majorität zerfiel in etwa zwei
gleichstarke Lager. Das eine hegte die Hoffnung, daß sich die Saarländer infolge einer ge¬
zielten Assimilationspolitik eines Tages als Franzosen fühlen würden, so daß man langfri¬
stig, dann aber mit Zustimmung der Bevölkerung eine politische Zugehörigkeit der Saar
zu Frankreich erreichen würde, das andere begnügte sich von vornherein mit einer wirt¬
schaftlichen Annexion ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg, allerdings wesentlich ent¬
schiedener und intensiver als damals und vor allem ohne zeitliche Begrenzung.
Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung der französischen Regierung in der Saarfrage
war der starke Widerstand der Amerikaner und Briten gegen jede Politik, die auf Anne¬
xionen zielte. Hier lehrten die Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg. Diese Abneigung
war im Jahre 1945 wesentlich stärker spürbar als 1947, als man Frankreich für Zuge¬
ständnisse in der Deutschlandpolitik in seinen Interessen an der Saar entgegenkommen
mußte. Schon wenige Tage nach der Besetzung des Saarlandes durch französische
Truppen10 traten hier Dissonanzen auf. So alarmierte der Général Gouverneur militaire
Sarre die Befehlszentrale in Baden-Baden am 20. 7. 1945 telegraphisch über starke ame¬
rikanische und britische Aversionen gegenüber einer möglichen Politik des fait accompli:
En raison position nettement antifrançaise prise par certains milieux et officiers du Gou¬
vernement militaire américain concernant la Sarre estime indispensable pour éviter diffi¬
cultés interalliées avoir politique française très prudente en Sarre et en particulier ne
laisser entrer en fonction que personnel militaire de gouvernement à l’exclusion de fonc¬
tionnaires civils.
Darüber hinaus müsse sofort die zwanzigköpfige Kommission, die im Auftrag des Gou¬
vernement Provisoire unter Leitung des Directeur des chancelleries im Außenministerium
L. Abel Verdier die Lage an der Saar in Hinblick auf künftige Entscheidungen studieren
solle, abberufen werden, da gerade sie eine fâcheuse interprétation der Alliierten provo¬
ziere.11 In der Stellungnahme der Regierung (Etat Major Général de la Défense Nationale
!ß Das Saarland wurde am 21. 3. 1945 durch amerikanische Truppen besetzt, sie wurden ab 6. 7.
1945 durch französische abgelöst.
1] Telegramm vom 20. 7.1945. Ministère des Affaires Étrangères, Archives et Documentation, Be¬
stand Z Europe 1944 - 1949 juin. Sous-Direction de la Sarre au Quai d’Orsay, Nr. 1.
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