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Der Neuaufbau des öffendichen Bildungswesens an der Saar
unter der Regie der französischen Militäradministration
1. Französische Annexionsabsichten?*)
Gilbert Grandval, über 10 Jahre der mächtige und energische Vertreter Frankreichs an der
Saar, hat im Jahre 1976 innerhalb einer Fernsehsendung entschieden bestritten, daß sein
Land nach dem Zweiten Weltkrieg das Saarland jemals habe annektieren wollen.1 Schon
ein Jahr zuvor hatte er solche Spekulationen Frankreichs zurückgewiesen, als er im Saar¬
ländischen Rundfunk im Rückgriff auf Willensabsichten führender französischer Poli¬
tiker wie General Charles de Gaulle, Felix Goin, Georges Bidault und Léon Blum versi¬
cherte: Um mich ganz klar auszudrücken: es wurde nie von einer Annexion des Saar¬
landes gesprochen.1 Bis zum heutigen Tag sind solche und ähnliche Beteuerungen von
französischer Seite immer wieder abgegeben worden. Allerdings hat man ihnen bisher
wenig Glauben schenken können, weil es eine Reihe von Anhaltspunkten gibt, die er¬
kennen lassen, daß Frankreich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg die Saar doch in
seinen Staatsverband einverleiben wollte.3
Zur Spekulation über französische Annexionsgelüste bezüglich deutscher Gebiete und
hier insbesondere der Saar haben in erster Linie Äußerungen de Gaulles im Zeitraum
1944/45 beigetragen. So erhob er schon im Rahmen der französisch-russischen Ge¬
spräche vom 2. bis 10. Oktober 1944 in Moskau gegenüber Stalin u. a. die Forderung: La
frontière géographique et militaire de la France est constituée par le Rhin et... l’occupa¬
tion de cette ligne est nécessaire à sa sécuritéA Auf einer Pressekonferenz am 25. Januar
1945 in Paris bekräftigte de Gaulle wiederum unter Hinweis auf die Sicherheitsinteressen
seines Landes diesen Standpunkt, indem er ankündigte: La France ... veut donc être soli¬
dement établie d’un bout à l’autre de cette frontière naturelle.5 Direkte Annexionsforde¬
rungen im Sinne einer neuen Grenzziehung, wie sie etwa von Raymond Poincaré nach
dem Ersten Weltkrieg erhoben worden sind, sucht man in den Stellungnahmen de Gaulles
allerdings vergeblich. Er bevorzugte bewußt eine Taktik des Nuancierens und des Offen¬
haltens und konzentrierte die Ansprüche seines Landes nachdrücklich auf Einfluß und
Kontrolle. Das Thema Annexion streifte er allenfalls in sybillinischen Redewendungen.
*’ Dieses Kapitel deckt sich inhaltlich weitgehend mit einem Beitrag des Verfassers im Jahrbuch für
westdeutsche Landesgeschichte, 9, 1983, S. 345 — 356 (Titel des Aufsatzes: „Wollte Frankreich
das Saarland annektieren?“)
1 H. Kubens und R. Lais, S. 2.
2 H. Schwan, Kampf, S. 4
In diesem Zusammenhang seien hier nur erwähnt: R. H. Schmidt, S. 1 ff.; J. Freymond, S.
44; J. Hoffmann, Ziel, S. 49 f.; H. Schneider, S. 24 ff.
4 Les Entretiens de Gaulle — Staline des 2, 6 et 8 décembre 1944, in: Recherches Internationales à
la lumière du Marxisme, No 12, Paris 1959, S. 32. Zitiert nach W. Lipgens, Etappen, S. 85.
Vgl. dort auch Anm. 126 auf S. 100.
5 L Année politique 1944-1945, Paris 1946, S. 101. Zitiert nach R. Hudemann, S. 331, Anm.
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